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Digitales Programmheft - In the Name of

Digitales Programmheft von Max Kretschmann & Tobias Schuster

„They were told: Your parents are not your parents, your past is not your past, your life begins when you’re chosen.“

„Niños Robados“, „Orphan Trains“, „Zwangsadoptionen“, „Home Children“, פרשת ילדי תימן החטופים ואחרים, „Gerichte segregatie en gedwongen ontvoeringen“, „Stolen Generations“… Es hat viele Namen. Es geschah in unterschiedlichen Ländern, unter unterschiedlichen Bedingungen. Liat Fassbergs Stück „In the Name of“ ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit der systematischen Entwendung von Kindern aus ihren Familien im 19. und 20. Jahrhundert.

In den USA des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wurden mit den sogenannten „Orphan Trains“ 250.000 Kinder entführt, meist Nachkommen verarmter europäischer Einwanderer, und an christliche Familien im Westen gegeben.

Amerikas Waisenzüge, die andere Form der Sklaverei

Mehr als 250.000 Waisenkinder wurden zwischen 1854 und den 1920ern per Eisenbahn aus den Slums New Yorks in den Westen gebracht. Eine Studie zerstört die Fassade dieser „Erfolgsgeschichte“.

Welt • 3.8.21

Von 1869 bis 1932 wurden etwa 100.000 Heimkinder aus dem United Kingdom an Familien im ländlichen Kanada vermittelt, die sich bereit erklärten, die Kinder aufzunehmen und für deren Bildung aufzukommen: Gleichzeitig waren die Kinder gern gesehene Arbeitskräfte, die ihre Verwandten meist nie wieder sahen.

Von 1939 bis 1975 wurden in Spanien unter der Herrschaft Francos in etwa 300.000 Fällen die Kinder von erklärten Feinden des faschistischen Regimes entführt und an systemtreue Familien gegeben, später schlugen kirchliche Institutionen und Krankenhäuser Profit daraus, auf diesem Wege zahlungskräftige Adoptiveltern mit Babys zu versorgen. So wurden Todes- und Geburtsurkunden gefälscht, während den frisch gebackenen Müttern erzählt wurde, ihr Neugeborenes sei kurz nach der Entbindung verstorben.

Eine Lange Nacht über Spaniens geraubte Kinder Mauern des Schweigens

Die Tragödie begann zur Zeit des spanischen Bürgerkriegs und setzte sich bis in die 90er-Jahre fort. Ursprünglich politisch motiviert, wurde der Babyraub bald zu einem lukrativen Geschäft, in das Ärzte, Anwälte, und vor allem die katholische Kirche verwickelt waren. Man schätzt, dass in spanischen Geburtskliniken mehr als 300.000 Babys verschwanden.

Deutschlandfunk • 25.2.17

In Australien wurden bis 1960 bis zu 100.000 Kinder indigener Familien bis in die 1960er Jahre hinein entwendet: ganze „stolen generations“.

Ähnliche Methoden untersucht Fassberg anhand von Fällen in der DDR, in Belgien, in Irland, Israel und in Kanada.

Misshandelt und umerzogen: Kanadas First Nations Doku (2020)

Zudem nimmt der Text die menschenverachtende Forschung von Dr. Peter Neubauer in den Blick: der Psychiater verschaffte sich über eine Adoptionsagentur in New York die nötigen Versuchsvoraussetzungen, um Zwillinge, die zur Adoption freigegeben waren, zu trennen und deren Aufwachsen in unterschiedlichen Umgebungen zu erforschen. Ihn beschäftigte die Frage, was für die kindliche Entwicklung wichtiger sei: die Umgebung, in der ein Kind aufwächst, oder die ererbten Veranlagungen. Weder die Adoptiveltern, noch die mindestens 19 Kinder wussten von diesem Versuch. Viele der Probanden leiden noch heute an dem Experiment.

Drillinge wurden als Babys getrennt und als Versuchsobjekte missbraucht

Im VICE-Interview sprechen zwei der Drillinge über die große Verschwörung, die sie getrennt hielt, und die neue Doku über ihr Leben, ‘Three Identical Strangers’.

„In the name of“ befragt Handelnde wie Betroffene all dieser Systeme und untersucht die Wunden, die diese Zwangspraktiken hinterlassen haben.

Mit ihren poetischen Recherchen lädt Fassberg dazu ein, sich mit Fragen von sozialen Machtstrukturen und des kollektiven Erinnerns auseinanderzusetzen.

Liat Fassberg wurde 2021 nach der Teilnahme an einer Autor*innen-Residenz im Rahmen des Schwerpunkts „Neue Zeit, neue Dramatik“ für „In the Name of“ an den Kammerspielen mit dem Münchner Förderpreis für deutschsprachige Dramatik ausgezeichnet, der mit zwei Uraufführungen über zwei Spielzeiten an den Kammerspielen verbunden ist.

Neue Zeit, neue Dramatik
Lange Nacht der neuen Dramatik 2021
5 Leseperformances zum Abschluss der Autor*innen-Residenz im Rahmen...

Die Struktur des Textes erinnert zunächst an ein Bildendes Kunstwerk: In der Mitte großer Din A3 Bögen setzt Liat Fassberg einen zentralen Text, mit Schreibmaschine geschrieben, manuell auf die Papierbögen aufgeklebt. Die Erzählperspektive ist dabei zersplittert, über die ganze Seite gruppiert Fassberg nur einzelne Wörter, die, hintereinander gesprochen, Fragmente von Geschichten aufblitzen lassen und sich zusehends verdichten. Um diesen zentralen Text herum gruppiert Fassberg mit Büroklammern befestigte Recherchematerialien, die den zentralen Text kommentieren: Gesetzestexte, Statistiken, Zitate aus gefundenen Dokumenten, Begriffsdefinitionen, Kommentare zum Text. Diese Struktur greift auch die Form des jüdischen Talmuds auf, in dem Gesetzestexte ausgelegt und kommentiert werden.

Ensemble und Zuschauende von „In the Name of“ sind eingeladen, sich mit diesen abgründigen Praxen auseinanderzusetzen.

Joël-Conrad Hieronymus erfindet für diesen Abend eine installative Rahmung: Vor Beginn der Vorstellung durchwandert das Publikum eine Soundinstallation von Max Mahlert, kann sich in einer von Wiebke Puls kuratierten Ausstellung dem Gegenstand von „In the Name of“ annähern und trifft dabei bereits im Foyer des Werkraums auf eine Figur, die sich in fast manischer Weise in die Auseinandersetzung mit dem Thema stürzt. Danach betritt man den von Ausstatter Leo Mandl kreierten suggestiven Bildraum, der sich assoziativ-sinnlich dem schmerzvollen Themenkosmos annähert und den Blick freigibt in ein traumatisches Terrain.

Liat Fassberg

Liat Fassberg, geboren 1985 in Jerusalem, beschäftigt sich häufig mit historischen und politischen Themen und setzt sich mit Fragen der Repräsentation, der Geschichtsschreibung, der Menschenrechte auseinander. Fassberg verzichtet auf klassische Figuren und sucht radikal nach alternativen Erzählformen, die die Komplexität des Geschichtenerzählens, der Sprache und der Darstellung befragen. 2017 wurde das Erstlingsstück „Etwas Kommt Mir Bekannt Vor“ mit dem Retzhofer Dramapreis ausgezeichnet, der wichtigsten Auszeichnung für junge Dramatik, und am Wiener Burgtheater uraufgeführt. Das Stück setzt sich mit den Diskriminierungsmechanismen auseinander, mit denen migrantisch gelesene Personen etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln konfrontiert sind.
Website von Liat Fassberg

Joël-Conrad Hieronymus studierte Kunstgeschichte und Judaistik an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seit 2017 assistierte Hieronymus frei in den Bereichen Regie und Kostüm für Musik- und Sprechtheater. Joël arbeitete unter anderem mit den Regisseuren Jan Bosse, Falk Richter und Andreas Kriegenburg, sowie mit Kostümbildner*innen wie Kathrin Plath, Mona Ulrich, Kaspar Glarner und Ellen Hofmann zusammen. Im Frühjahr 2019 entwickelte Joël Hieronymus in einer künstlerischen Mitarbeit die Kostüme zur Uraufführung „Mina“ an der Oper Frankfurt. Im Sommer 2019 folgte am Schauspiel Frankfurt die Regiearbeit „Dear ______ 3319 Analysis.“. Seit der Spielzeit 2020/2021 ist Joël Hieronymus Regieassistent*in an den Münchner Kammerspielen.

UA Neue Zeit, neue Dramatik
In the Name of
Von Liat Fassberg • Regie: Joël-Conrad Hieronymus