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Erinnern: So wichtig

Von Mirjam Höfner, M.A.

„Mütter für den Staat“ um 1900.

Die „Bayerischen Suffragetten“ und der Münchner Verein für Fraueninteressen

Suffragetten? In Bayern? Kennen Sie ihre Namen und Geschichte/n? Um 1900 gab es eine sehr große bayerische Frauenbewegung, die untrennbar mit dem Münchner Verein für Fraueninteressen verknüpft ist. Die Münchner Kammerspiele stellen namhafte Akteurinnen vor und adaptieren die Entstehungsgeschichte jenes Vereins, der als feministische „Keimzelle“ vor 125 Jahren die bayerische Frauenbewegung lancierte – und der bis heute existiert.

Politische Kämpfe „apolitischer“ Frauen

Entstehung und Vereinsgeschichte des Fraueninteressevereins sind ebenso komplex, wie die historischen Frauenrechtlerinnen und ihre Gleichberechtigungsforderungen selbst. Während die Mitbegründerin Anita Augspurg (1857-1943) im Jahr 1912 die erste (reichsweit einzige) Demonstration für das Frauenstimmrecht in München organisierte, distanzierten sich die meisten Aktivistinnen von den zeitgenössischen britischen Suffragetten. Die Münchner Vereinsfrauen unter der Leitung von Ika Freudenberg (1858-1912) wollten keinesfalls mit militanten Aktionen in Verbindung gebracht werden. Doch auch ihr gewaltfreies Engagement für mehr weibliche Handlungsspielräume war für sie ein dezidierter „Kampf“: Die wortführenden Frauenrechtlerinnen fochten in Bayern mit anderen Strategien gegen patriarchale Gesetze. Die damalige Taktik des Vereins für Fraueninteressen lautete analog zur reichsweiten bürgerlichen Frauenbewegung: Möglichst apolitisch auftreten, um politische Gleichberechtigung zu erreichen. Was heute paradox klingt, hatte zeitgenössisch großen Erfolg!

Um diese demonstrativ apolitische Strategie bei gleichzeitig hochpolitischem Anspruch zu verstehen, hilft ein Blick auf die Geschichte und damalige Geschlechtervorstellungen. Als die Frauen sich ab Mitte der 1880er Jahre in München zusammenfanden, hatten alle eines gemeinsam: Sie waren qua sozialrechtlicher wie politischer Bestimmungen „dem Manne“ nachgeordnet. Das bayrische Vereinsgesetz (gültig von 1853 bis 1908) verbot Frauen politisches Handeln, da es nicht der Beruf der Frauen mit sich führe. Die damals pseudomedizinisch wie pseudophilosophisch begründete „Natur der Frau“ sähe es vor, dass (bürgerliche) Frauen ausschließlich als Mütter und Ehefrauen in Ergänzung „zum Manne“ geschaffen seien. Kurzum: Die „natürliche“, binär gedachte Geschlechterhierarchie samt Exklusion von Frauen aus Politik und Öffentlichkeit ist Teil einer langen, hegemonialen Tradition.

Von Frauen für Frauen – als „Frauen“

Dagegen rührte sich Widerstand. Die organisierte Frauenbewegung startete in Leipzig im Jahr 1865 mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF), dem vielerorts Nachfolge-Organisationen folgten. Als sich alle diese Vereine 1894 unter der Berliner Dachorganisation des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) zusammenschlossen, kam es zum Bruch zwischen bürgerlichen und proletarischen Frauenbewegungsgruppen. Während die Proletarierinnen einen Gesellschaftsumbruch forderten, konzentrierten sich die bürgerlichen Wortführerinnen des BDF auf eine Gesellschaftsreform zugunsten einer Besserstellung von Frauen als „Frauen“. Auch der spätere Verein für Fraueninteressen zählte zum BDF: Er holte die organisierte Frauenbewegung 1894 endlich nach Bayern und initiierte in München solidarische Aktionen zwischen den proletarischen und bürgerlichen Frauenrechtlerinnen. Dazu zählten bspw. die erfolgreiche „Agitation zu Gunsten des Sitzendürfens der Ladnerinnen“ von 1896, die es Verkäuferinnen erlaubte, einen Hocker ins Geschäft zu stellen, um sich während ihrer Schicht ab und an hinsetzen zu können. Auch die oftmals sehr prekäre Situation der „Bühnenkünstlerinnen“ sowie des „Krankenpflegewesens“ bekam eine breitenwirksame Plattform. Der Fraueninteresseverein initiierte auf diese Weise die Gründung von weiblichen Berufsorganisationen wie z.B. den Verein Münchner Kellnerinnen von 1899 oder die Organisation der Maschinenschreiberinnen von 1908 uvm.

„Das Private ist politisch“

Die Gruppe um Anita Augspurg, Sophia Goudstikker (1865-1924) und Ika Freudenberg stammte aus gehobenen Gesellschaftskreisen. Im Jahr 1894 gründeten sie die Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau, deren Name den angeblich rein kulturellen Austausch betonen sollte. Dabei zielten sie klar auf die „vollgültige Teilnahme der Frauen an unserem gesamten öffentlichen Leben“ (Ika Freudenberg, 1903). Die Frauen stießen auf breite Unterstützung und zählten Literat:innen wie Künstler:innen der Münchner Moderne, bspw. Gabriele Reuter, Helene Böhlau, Ernst von Wolzogen, Rainer Maria Rilke und Max Haushofer zu ihren Mitgliedern. Hilfreich war, dass Augspurg und Goudstikker sich als schillerndes Bohème-Pärchen bereits bis in königliche Kreise einen anerkannten Namen gemacht hatten: Ihr erfolgreiches Fotostudio Elvira samt aufsehenerregender Jugendstilfassade eröffnete hilfreiche Kontakte. (Bis heute ziert der Hausfassaden-„Drache“ das Logo des Vereins für Fraueninteressen.)

Noch im Jahr 1896 überführten die Frauenrechtlerinnen die ursprüngliche Gesellschaft in eine Vereinsform und nannten ihn ab 1899 schließlich Verein für Fraueninteressen. In den Verhandlungen, wie die Frauen angesichts von Politikverbot für Gleichberechtigung kämpfen sollten, kam es zu auch persönlichen Auseinandersetzungen: Die als „radikal“ betitelte Augspurg setzte auf medienwirksame Aktionen, das Gros der Bayerinnen wählte dagegen die Strategie der „organisierten Mütterlichkeit“ – dazu gleich mehr. In aller Kürze: Die Lebensgefährtinnen Augspurg und Goudstikker trennten sich, Augspurg verließ den Verein (zeitweilig auch die Stadt) und Freudenberg lebte ab sofort mit Goudstikker im „Drachen“-Gebäude. Unter der Leitung von Ika Freudenberg wurde der Fraueninteresseverein schließlich zum feministischen Zugpferd in Bayern und der bayerischen Pfalz: Freudenberg wurde zur „Mutter der bayerischen Frauenbewegung“. Als sogenannte „Mütter für den Staat“ kämpften die Frauen des Vereins für Fraueninteressen breitenwirksam für weibliche Gleichberechtigung und beförderten damit in Bayern „Soziale Arbeit“ als feministisches Projekt um 1900.

„Organisierte Mütterlichkeit“ als feministisches Programm

Angesichts der traditionellen Auffassung vermeintlich „emotional geleiteter“ Frauen als Counterpart zu „rational verstandesfähigen Männern“, war das Ringen um Gleichberechtigung kompliziert. Geschickt wendeten die Frauenrechtlerinnen die diskriminierenden Geschlechterstereotype und nutzten die zeitgenössische Soziale Frage für die politische Legitimation ihrer Forderungen nach spezifisch weiblich markierter Gleichberechtigung. Ihr Motto lautete: „Da wir Frauen emotional intelligenter sind als Männer und als (potenzielle) Mütter natürlicherweise besser Fürsorge betreiben können, sollte uns entsprechende politische Mitsprache eingeräumt werden“. Die bürgerliche Frauenbewegung zielte mit diesem Konzept „organisierter Mütterlichkeit“ auf sukzessive Zulassung von Frauen in politische Gremien, von der Kommune bis hin zum nationalen Frauenwahlrecht. Zugleich schufen sie ein prestigereiches „Frauenberufsfeld“: Weg von unbezahlter Wohlfahrtstätigkeit hin zu bezahlter „Sozialer Arbeit“. Es sollte Frauen empowern, auch unabhängig von der heterosexuellen Ehe durch eigenständiges Einkommen ihr Leben selbst gestalten zu können.

Der Münchner Fraueninteresseverein knüpfte diese Forderungen an eine konkrete, vielgestaltige feministische Praxis. In Form von zig Ortsgruppengründungen und vielerlei vereinsinternen Kommissionen differenzierten sie die Arbeit des konstant wachsenden Vereins aus: Sie bildeten Fürsorgerinnen in der Abteilung Soziale Arbeit aus, gründeten eine stark frequentierte Rechtsschutzstelle, schufen Fürsorgeangebote wie die Auskunftsstelle für Wohlfahrtseinrichtungen und trugen damit ihre Gleichberechtigungsideen bis weit ins Bayerische Umland – unterstützt durch die eigene Propagandakommission. Die Stadt München erkannte ungern, aber langsam das hilfreiche Potenzial dieser frauenbewegten Arbeit; das ursprünglich nur von Männern besetzte Ehrenamt wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg mithilfe von Waisen- und Armenpflegerinnen auch für Frauen geöffnet. Ein zäher, demokratisierender Prozess, der unerlässlich für die Anerkennung öffentlicher Arbeit von Frauen war – nach 1918 auch in Politik und Parlament auf nationaler Ebene.

Erinnern: So wichtig

Der Grund, weshalb wir bis heute so wenig über die auch für unseren heutigen demokratischen Sozialstaat so wichtige Beteiligung von Frauen* wie die „Bayerischen Suffragetten“ wissen, liegt nicht allein am Bruch durch den Nationalsozialismus. Viele Quellen wurden durch den Zweiten Weltkrieg oder diktatorische Politik vernichtet. Doch liegt es auch an einer bis heute (cis-)männlich dominierten Erinnerungskultur, dass Frauen(bewegungs)geschichte/n meist unbekannt sind. Umso wichtiger, dass wir in vielerlei Formaten die spannenden, z.T. demokratisierenden und (queer)feministischen Geschichten in all ihren komplexen Facetten erzählen, damit wir die historische Diversität feministischer Strategien verstehen und deren Akteur:innen als Role Models kennenlernen können.