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Was aus dem Drachenei schlüpfte

Von Viola Hasselberg

„Bayerische Suffragetten“ hat es nie gegeben. Aber wir stellen sie uns vor. Erinnern heißt kämpfen und Lücken füllen, die nicht zufällig da sind. Erstaunliche Frauen schlossen sich in München ab 1886 zu einer Bewegung zusammen, mit Glamour und Verve, mit subversiven Strategien, mit künstlerischer Kraft und mit sehr viel politischer Arbeit. Wir wissen skandalös wenig darüber, obwohl diese Frauen uns Räume eröffnet haben, mit ihrem Mut hinter uns stehen könnten, Ideen befeuern könnten für zukünftige Veränderungen.

1886: „München leuchtet“ - als liberale Kunststadt. Rund um die Keimzelle des Fotoateliers Elvira treffen sich Frauen, die aus den Normen ausbrechen. Viele von ihnen schreiben, publizieren und verdienen damit eigenes Geld. Sie gebrauchen ihren Verstand, um öffentlich und gemeinsam mit Männern darüber zu debattieren, was modern ist. Sie erkunden mit Lust, was es heißen könnte, eine „Persönlichkeit“ zu haben. Sie leben verschiedene Beziehungskonstellationen, haben Kinder oder eben keine. Das schillernde Paar Anita Augspurg und Sophia Goudstikker gründet mit dem Atelier Elvira eines der ersten von Frauen geführten Unternehmen im deutschen Kaiserreich und beweist damit: Es muss möglich sein, unabhängig vom Geld der Väter oder Ehemänner eine eigene Existenz zu führen. Ihr Hofatelier lockt Exzellenzen des bayrischen Königshofs genauso an, wie alle, die etwas unerhört Neues ausprobieren wollen. Die beiden Gründerinnen galoppieren in Herrenkleidern durch den englischen Garten und punkten mit ihrer Selbstinszenierung, ihr Fotoatelier: eine Marktlücke, ein genialer Coup! Zwölf Jahre später wird die Fassade ein riesengroßes Stuckornament schmücken, ein fliegender Drache, der zum Symbol der bürgerlichen Frauenbewegung wird und den die Nazis 1933 abschlagen lassen. Der Drache atomisiert sich in zahllose Partikel aus staubigem Putz.

„Bayerische Suffragetten“ ist eine Collage aus historischer Erzählung, aus Zitaten der Protagonistinnen aus ihren Romanen, Reden oder Briefen, aus sehr persönlichen Texten der Spieler*innen zu ihren Figuren und aus den furiosen Songs von Eva Jantschitsch: Eine Aneignung der Geschichte im Hinblick auf unsere heutigen Fragen nach fehlender Solidarität, struktureller Diskriminierung und Möglichkeiten der Veränderung. Die einzelnen Biografien wären Stoff für zehn einzelne Theaterabende, hier geht es mehr um den Erfolg der Bewegung.

Die bürgerlichen Frauen pflegen ihre Freundinnenschaft, sie treten begeistert Vereinen und Gesellschaften bei, obwohl bis 1908 in Bayern allen Frauen politische Betätigung verboten ist. Viele dieser Frauen haben ihre eigenen Salons, sind Gastgeberinnen für Frauen und Männer. Sie wollen sich nicht weiter ausschließlich von Männern „be-schreiben“ lassen, sondern sie erzählen selbst in Romanen und Theaterstücken. Über lebensgefährliche Geburten in „Häusern für Lediggebärende“, über gewaltvolle Väter und Ehemänner, aber auch über berufstätige Frauen, die freiwillig „alte Jungfern“ werden oder über Liebe zu dritt. Skandale sind vorprogrammiert. Frauen haben damals weder Befugnis, über den eigenen Körper, eigene Kinder oder eigenes Geld zu entscheiden. Anita Augspurg, die immer schon den nächsten strategischen Schritt denkt, formuliert es grundsätzlich: Die gesetzliche Unterwerfung eines Geschlechts unter das andere ist falsch und unlogisch. Warum darf nur eine Hälfte der Menschheit ihren Geist gebrauchen? Bildung wird zum Kernthema, zum Motor der bürgerlichen Emanzipationsbewegung. Der Weimarer „Verein Frauenbildungsreform“ bekommt einen Münchner Ableger, Anita Augspurg hält öffentliche Plädoyers „nebenan“, im fortschrittlichen Baden, und 1893 ist es endlich so weit: In Karlsruhe wird dank des „Vereins Frauenbildungsreform“ das erste Mädchengymnasium eröffnet! Die Reformen sind weniger harmlos als sie klingen, Frauen begreifen sich als politisch handelnde Subjekte, das Private wird politisch, sie proklamieren Durst nach Ruhm, nach Berufstätigkeit! Das „Lieben“ und die Reproduktion wollen sie nicht mehr als einzige staatlich legitimierte Lebensaufgabe akzeptieren.

Als der Münchner Ableger des „Vereins Frauenbildungsreform“ verboten wird, rüstet sich Anita Augspurg zum Kampf, indem sie ein Jurastudium in Zürich beginnt. Im Gegensatz zum deutschen Kaiserreich, wo Universitäten für Frauen verschlossen bleiben, ist das in Zürich möglich. Und so pendelt die Studentin Augspurg mit dem Fahrrad (!) zwischen Zürich und München. 1894 wird in München ein Verein mit dem unauffälligen Namen „Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau“ gegründet, der bis heute existiert, Anita Augspurg im Vorstand. Die Bewegung nimmt Fahrt auf, wird größer, sichtbarer, ein „Frauenlandsturm“ zieht über das Kaiserreich. Eine Reform des bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) steht an, in welchem die Frau dem Mann nicht gleichgestellt wird, während sie im Strafgesetzbuch für alles zur Verantwortung gezogen werden kann. Kein Verfügungsrecht über das eigene Vermögen nach einer Heirat, kein Sorgerecht über die eigenen Kinder aber volle Unterhaltspflicht! Diese Ungerechtigkeiten mobilisieren bürgerliche Frauen und Arbeiterinnen gleichermaßen, und zum ersten Mal kämpfen sie gemeinsam. Man muss wissen, dass zu dieser Zeit in München ein Drittel der Kinder unehelich zur Welt kommt. Das umstrittene Gesetz im BGB tritt trotzdem in Kraft. Anita Augspurg steht inzwischen unter Radikalitätsverdacht und muss sich aus dem Vereinsvorstand zurückziehen. Aber die vielen (bürgerlichen) Frauen hantieren jetzt unermüdlich mit dem Handwerkszeug der praktischen Demokratie. Sie reichen Petitionen ein, sie verabschieden Resolutionen, sie eröffnen Büros, sie bilden Kommissionen - und was für welche: Die „Kommission zur Lage der Fabrikarbeiterinnen“, die „Kommission zur Unterstützung von weiblichen Lehrlingen“, eine „Kommission für Erziehungsfragen“ und viele mehr sowie ein „Kostümbüro für prekär arbeitende, weibliche Bühnenangehörige“.

1896 wird Ika Freudenberg neue Vereinsvorsitzende, und zwar eine, die unterschiedliche Positionen integrieren kann, die Räume öffnet, zum Beispiel einen für Münchner Kellnerinnen, die daraufhin ihren eigenen Verein gründen. Sophia Goudstikker ruft 1898 gemeinsam mit ihr und Emma Merk eine Rechtsschutzstelle ins Leben, die kostenlose Rechtsberatungen für Frauen anbietet. Goudstikker verteidigt als Autodidaktin ihre Klientinnen erfolgreich im Gerichtssaal. Der vorläufige Höhepunkt ist der erste bayerische Frauentag 1899, den der „Verein für Fraueninteressen“ (inzwischen hat man den Namen vereinfacht) in München ausrichtet mit Vorträgen, einem Festspiel von Marie Haushofer und täglichen Resolutionen.

Warum also sind diese Frauen nicht in die Geschichtsbücher eingegangen? Es gibt viele Gründe. Die Mehrheit der Frauen, die immer wieder die Emanzipation blockierten. Zwischen Anita Augspurg und Sophia Goudstikker entwickelte sich ein Richtungsstreit, der nicht nur zur Trennung des Paares führte, sondern Ausdruck der Spaltung der Bewegung wurde: Sollte es um praktische Reformen gehen oder um ganz grundsätzliche revolutionäre Veränderungen? War die bürgerliche Bewegung zu elitär, hatte man all die Trambahnschienenputzerinnen und Dienstbotinnen schlicht vergessen aus eigener Bequemlichkeit? War man zu schnell zufrieden? Denn als der Zugang zur Bildung 1908 durchgesetzt war, verlor die Bewegung sofort an Schwung und an Mitgliedern. Im ersten Weltkrieg waren nationale Interessen wichtiger als Fraueninteressen. Anita Augspurg blieb radikal und visionär und ging bis zu ihrem Tod 1943 ihren eigenen Weg. Sie sah schon 1923 nach dem Putsch in München Hitler zu dem werden, was er wurde, aber Augspurg wurde leider nicht in den Bayerischen Landtag gewählt, sondern nahm 1933 den Weg ins Exil.

Die „Bayerischen Suffragetten“ sind der Auftakt von FEMale Society, einer mehrjährigen Kooperation des Stadtarchivs Monacensia und der Kammerspiele, mit der wir die Frauenbewegung in München weiter erforschen und erzählen wollen.