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Digitales Programmheft "Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw"

Eine Tiefenbohrung in die ukrainisch-deutsche Geschichte

Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw ist der zweite Teil der Europa-Trilogie von Anne Habermehl, deren erster Teil Frau Schmidt fährt über die Oder 2021 Premiere feierte.

Die Idee, eine Europa-Trilogie zu schreiben, erwuchs aus dem Bedürfnis, ein Netzwerk aus Geschichten zu erfinden, die keine Fortsetzung, sondern lose miteinander verbundene Erzählungen sind. Sie spinnen sich fort, sind eine Tiefenbohrung in die Geschichte Europas. Ausgangsmoment ist das Machtgefälle zwischen Ost- und Westeuropa. Wie sahen die Ausbeutungsmechanismen im letzten Jahrhundert aus und was ist von ihnen übriggeblieben? Wie verändert sich die Machtausübung? Die Verbrechen Deutschlands in der Ukraine im Nationalsozialismus sind bis heute nicht präsent in der deutschen Erinnerungskultur.

Anne Habermehl destilliert mit Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw einen Makrokonflikt am Beispiel einer Kleinfamilie im Mannheim der Nachkriegsjahre und einer zweiten Familie Schmidt in den 1990er Jahren. Die Inszenierung behandelt historisch komplexe Themen aus verschiedenen Perspektiven.

Johanna Eiworth, Edmund Telgenkämper und Frangiskos Kakoulakis spielen diese zwei deutschen Kleinfamilien. Diese sind zwar nicht in Verwandtschaftsverhältnissen verbunden, doch spiegeln und kontextualisieren sie sich in Motiven, Material und Konflikten. Walter Hess spielt einen angeklagten Kriegsverbrecher, einen geschäftstüchtigen Arzt und einen überzeugten Pfarrer. Seine Figuren sind Zeitenwandler zwischen den beiden Geschichten.

Die erste Familie Schmidt lebt Ende der vierziger Jahre in Mannheim-Ludwigshafen. Der Zweite Weltkrieg ist vorbei und Frau Schmidt fragt sich, welchen Mann sie nach einem „zivilen Einsatz“ als Ingenieur eigentlich zurückbekommen hat. Erich kann nicht reden, er kann aber auch nicht schweigen. In der Ukraine hat er womöglich ein Kind gezeugt, das er seiner Frau verheimlicht. Ihr gemeinsamer Sohn Micha sucht in Wänden und Schuhen nach Wegbereiter*innen, die er in der realen Welt nicht finden kann. Erich wird als Entlastungszeuge zu einem Kriegsverbrecherprozess eingeladen, er gerät immer mehr unter Druck. Anne Habermehl verhandelt philosophische Fragen nach kollektiver Schuld im Verhältnis zum eigenen Leid in poetisch-fragilen Dialogen.

Parallel lässt die Autorin in ihrem Stück eine zweite Familie Schmidt Ende der 1990er Jahre wieder in die Ukraine blicken. Nach mehreren verunglückten Schwangerschaften ist für Brigitte und Armin Schmidt die einzige Hoffnung auf ein Kind eine teuer bezahlte Auslandsadoption aus der Ukraine. Als 2022 die Ukraine von Russland angegriffen wird, unterbricht das die Suche von Brigitte Schmidt nach der Herkunft ihres Adoptivsohnes Micha (Mikhaylo). Seinen Ursprung hatten ihm die Adoptiveltern lange verschwiegen. Aber Micha hat längst gespürt, dass ihn ein „Loch im Herz“ bedrückt.

Exemplarisch untersucht das Stück, wie Trauma in Familien weitergegeben wird. Im zweiten Weltkrieg zerstörte das NS-Regime die Ukraine und heute tobt dort wieder ein brutaler Angriffskrieg. Kaum vorstellbar, wie tief die Gräben durch die Generationen verlaufen werden und wie lange eine psychologische Aufarbeitung dauern wird. Haben Traumata zeitliche und räumliche Grenzen? Können sie durch das Schweigen verschwinden? Oder werden sie dadurch eher genährt und weitergegeben?

Die Geschichten fragen nach den blinden Flecken in den Familiengeschichten. Haben sie ein System? Welche Narrationen werden gelöscht, damit das (westdeutsche) Leben in Frieden und Freiheit gedeihen kann? Gibt es einen guten Weg, mit Schuld umzugehen?

Habermehl sucht die Antwort in den Beziehungen ihrer Figuren. So wird Geschichte fassbar und poetisch lebendig.

Paulina Wawerla

Zweiter Weltkrieg in der Ukraine

Der ehemalige Botschafter der Ukraine, Andrij Melnyk, kritisiert, dass das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg kaum Platz für die Opfer seines Volkes findet. Er fordert, dass Deutschland sich seiner historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine bewusst wird, denn schließlich hat es dort acht Millionen Kriegsopfer gegeben.

Lesen Sie hier den umstrittenen Politiker Andrij Melnyk im Gespräch mit Jörg Münchenberg.

Videoglossar

Während des Zweiten Weltkriegs war ein erheblicher Teil der heutigen Ukraine von deutschen Truppen besetzt. Die von der Besatzung begangenen Verbrechen führten zu weitreichender Zerstörung, Leid und Tod.

Tatjana Tönsmeyer gibt einen Überblick der Besatzung von 1941-1944.

Hier sehen Sie ein Originaldokument der Royal Airforce von den Luftangriffen auf Mannheim/Ludwigshafen. Eine absonderliche Aufnahme, die sehr wichtig für eine Figur des Stücks ist.

Eine Adoption kann für alle Seiten eine große Chance sein, zeigt Autor und Journalist Eric Breitinger. Alle Adoptierten, die er untersucht hat, haben sich aber auf die Suche nach ihren biologischen Eltern gemacht. Die These: In der Kindheit fühlten sie sich fremd, die Recherche prägt ihre Suche nach Identität.

Lesen Sie hier die Buchbesprechung von Deutschlandfunk Kultur!

Eine Analyse.

Die kommerzielle Nutzung der Leihmutterschaft gewinnt in der Ukraine an Popularität, obwohl sie stark umstritten ist. Diese Analyse der Bundeszentrale für politische Bildung beleuchtet, wie es  dazu kam, dass die Ukraine so eine lukrative Position auf diesem Markt einnimmt. Auch wenn es bei Frau Schmidt und das Kind aus Charkiw nicht direkt um Leihmutterschaft, sondern Adoption geht, ist es eine weitere Form der Kapitalisierung des weiblichen Körpers.

Der Artikel entstand vor dem Angriffskrieg im Jahr 2019.

In dieser Dokumentation wird das Geschäft ukrainischer Agenturen beleuchtet, die Leihmütter für deutsche Eltern vermitteln. Für viele Paare stellt eine Leihmutter oft die letzte Möglichkeit dar, eigene Kinder zu bekommen. „Stationen“ vom BR begleitet Eltern aus Deutschland auf ihrem Weg zu ihrem Nachwuchs.

Reichsarbeitsministerium 1933-1945: Zwangsarbeit für die Wirtschaft

Besatzung und Terror: Das Beispiel Ukraine

 

„Die Ukrainer freuten sich zunächst, dass die Deutschen sie von dem stalinistischen Terror der Sowjetunion befreit hatten“, doch schnell wurde klar, dass sie für sie hinter Stacheldraht arbeiten mussten. Eine Perversion, die ein Teil des Blinden Flecks des historischen Gedächtnis in Deutschland ist.

Tagesspiegel