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Programmheft "Effingers"

Am Anfang und am Ende der „Effingers“ schreibt der Firmengründer Paul Effinger jeweils einen Brief. Das Ende des Romans fiel Tergit schwer: Die Dimension der faschistischen Auslöschung stellte die Autorin vor eine schwere Herausforderung, sie sprengte den Rahmen alles Erzählten und Erzählbaren, drohte bei aller Grauenhaftigkeit ins Sentimentale abzugleiten. Tergit fand eine Lösung. Der letzte Brief Paul Effingers kommt in der Theaterfassung aus dramaturgischen Gründen nicht vor. Lesen Sie Paul Effingers Vermächtnis hier.

1948 bereist Gabriele Tergit, das erste Mal nach ihrer Flucht vor den Nazis 1933, das völlig zerstörte Berlin. In ihrem Gepäck das 700 seitige Manuskript der „Effingers“, in doppeltem Sinne das letzte, was sie besaß, ihr Vermächtnis. Alle weiteren Manuskript-Exemplare waren in den Kriegs- und Nachkriegswirren verloren gegangen. Wer war diese Frau, wie war diese Frau, die zurückkehrte auf den „Friedhof Deutschland“, die sich nicht abschrecken ließ, die sich nichts „schön guckte“, der bei allen persönlichen und kulturellen Verlusten bis ins 89. Lebensjahr gelang, eine Überlebenskünstlerin zu bleiben?

Gabriele Tergit war in den Zwanzigern berühmt für ihre scharfzüngigen Gerichtsreportagen im Berliner Tageblatt. Nach ihrer Flucht ins Exil nach London kehrt sie 1948 und 1949 erstmals nach Deutschland zurück. Wieder sitzt sie im Gerichtssaal und schreibt über wichtige Prozesse gegen Nazis, die mit Freisprüchen enden. Ihre daraus abgeleitete Frage lautet: „Was macht man in einer Demokratie mit einem Volk, das für Mörder eintritt?“ Lesen Sie hier zwei Ihrer Reportagen.

Effingers

nach dem Roman von Gabriele Tergit
Regie: Jan Bosse

Industrialisierung, Jahrhundertwende, der erste Weltkrieg, die beginnende Frauenbewegung. Eine Pandemie, Inflation, Antisemitismus, Nationalsozialismus, Faschismus. Ein Leben inmitten all dieser Ereignisse führte Gabriele Tergit, eine wichtige literarische und politische Stimme des letzten Jahrhunderts, die gerade erst wiederentdeckt wird. Tergit dokumentierte als Chronistin die Welt des frühen 20. Jahrhunderts in zahlreichen Gerichtsreportagen über mehr als 40 Jahre hinweg, 1933 floh sie aus Deutschland vor den Nazis. Ihr Familienroman „Effingers“ porträtiert das Leben einer jüdischen Familie zwischen 1883 und 1942. Obwohl das Werk 1951 erschien, wurde dem Roman und seiner Autorin zunächst kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Erst die aktuelle Neuauflage ist der verdiente, große Erfolg. 2021 wird die Geschichte der „Effingers“ in der Regie von Jan Bosse in den Münchner Kammerspiele endlich uraufgeführt. Die Premiere musste Corona-bedingt verschoben werden. (Lesen Sie auch das Hintergrundgespräch mit der Herausgeberin Nicole Henneberg).

Berlin, 1883. Die aus der süddeutschen Provinz zugereisten Brüder Karl und Paul Effinger gründen gemeinsam eine Firma zur Produktion von Schrauben. Um das dringend benötigte Startkapital zu erhalten, bitten sie die Bankleute Oppner & Goldschmidt um Kredit. Die geschäftliche Verbindung führt dazu, dass die Effinger-Brüder die Töchter der Bankleute, Annette und Klara, heiraten. So beginnt die Erzählung der Familie Effinger im wohlhabenden Bürgertum der Jahrhundertwende. Die Geschwister bilden die mittlere von drei Generationen, deren Lebensgeschichten an diesem Abend erzählt werden: Drei Generationen wachsen auf, suchen Rückhalt und Stabilität in ihrer Familie oder emanzipieren sich von ihren Zwängen. Sie verlieben sich, werden verheiratet oder heiraten gar nicht, fahren das erste Mal Auto, experimentieren mit dem technischen und wirtschaftlichen Fortschritt, erleben einen Weltkrieg, sind Teil des gesellschaftlichen Aufstiegs und stürzen ab. Der Antisemitismus in ihrem Umfeld manifestiert sich schleichend, verhärtet sich und wird für die Protagonist*innen schließlich lebensbedrohlich. Gabriele Tergit zeichnet in pointierten Dialogen Figurenportraits, die einem auch heute nahekommen.

Die „Effingers“ erwecken aber nicht nur verschiedene Menschen im Kontext ihrer Zeit zum Leben, sondern greifen thematisch direkt in unsere Gegenwart: wirtschaftliche Debatten, Leistungsdenken und Kapitalismus, Firmengründung und soziale Verantwortung, emanzipatorische Entwürfe, der erstarkende Antisemitismus, die Erosion der Demokratie oder auch einfach die Zukunftsangst und Orientierungslosigkeit Jugendlicher! Gabriele Tergit vermeidet in ihrer Chronik jegliche schwarz-weiß-Malerei. Marianne Effinger, die Tochter des Firmengründers Karl Effinger, ist z.B. Anhängerin der Frauenbewegung und versucht mit ihrer Arbeit gegen die soziale Ungerechtigkeit zwischen den Klassen anzukämpfen. Sie freundet sich mit dem Sozialisten Martin Schröder an, der später mit dem Nationalsozialismus sympathisiert und im Laufe der Zeit immer stärker antisemitischen Verschwörungstheorien verfällt. Das Erinnern an eine im Faschismus untergegangene Welt gestaltet die Autorin als einen vielschichtigen, letztlich in die Zukunft gerichteten Akt, der immer wieder auch Raum für Sarkasmus und Humor lässt. Jan Bosses Inszenierung für ein großes Ensemble findet für dieses Erinnern besondere Bilder und Atmosphären.

Eine Kurzbiografie zu Gabriele Tergit

Gabriele Tergit wurde 1894 in Berlin geboren und war deutsche Journalistin und Autorin.
Sie besuchte die soziale Frauenschule von Dr. Alice Salomon.
Nach ihrem Abitur studierte sie Philosophie und promovierte in Geschichte. Ab 1920 veröffentlichte sie Feuilletons in verschiedenen Zeitungen. In ihren sozial- und justizkritischen Gerichtsreportagen dokumentierte sie zahlreiche Prozesse.
1933 emigrierte sie in die Tschechoslowakei, später nach Palästina und 1938 nach Großbritannien.
Nach 1945 schrieb sie hauptsächlich Sachbücher und war als Sekretärin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland tätig.
Ihren früheren Romanen und Artikeln wurde in der BRD zunächst wenig Aufmerksamkeit geschenkt, erst 1977 wurde sie im Rahmen der Berliner Festwochen wiederentdeckt und ihre Romane wurden neu aufgelegt.
Nach ihrem Tod 1982 erschien ihre Autobiografie „Etwas Seltenes Überhaupt“.

Über Gabriele Tergit als Chronistin von Verfall und Gefährdungen der Demokratie. Nicole Henneberg – Herausgeberin der lange vergessenen Autorin – erzählt, warum Tergit wusste, dass Frauen einen langen Atem brauchen

In Effingers überlagern sich verschiedene Schichten von Erinnerung. Die Videokünstlerin Ruth Stofer hat unsere Schauspieler*innen mit ihren Portraits auf eine Zeitreise geschickt.

Sehen und hören Sie hier, wie die Inszenierung Effingers beginnt mit einem unglaublichen Aufbruch zweier Brüder. Video von Ruth Stofer.

Ein großer Roman des zwanzigsten Jahrhunderts

Süddeutsche Zeitung • 4.4.19