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Gabriele Tergit - etwas Seltenes überhaupt*

1948 bereist Gabriele Tergit, das erste Mal nach ihrer Flucht vor den Nazis 1933, das völlig zerstörte Berlin. In ihrem Gepäck das 700 seitige Manuskript der „Effingers“, in doppeltem Sinne das letzte, was sie besaß, ihr Vermächtnis. Alle weiteren Manuskript-Exemplare waren in den Kriegs- und Nachkriegswirren verloren gegangen. Wer war diese Frau, wie war diese Frau, die zurückkehrte auf den „Friedhof Deutschland“, die sich nicht abschrecken ließ, die sich nichts „schön guckte“, der bei allen persönlichen und kulturellen Verlusten bis ins 89. Lebensjahr gelang, eine Überlebenskünstlerin zu bleiben?

Tergit beschreibt ihre erste Wanderung 1948 durch das zerstörte Berlin in ihrem letzten Buch, den Erinnerungen „Etwas Seltenes überhaupt“: „Ich lief aufgeregt durch Berlin, der eigene Schritt war das einzige Geräusch. Alle Häuser in der Straße waren zerbombt, warfen Schatten mit den Fenstern als viereckigen Sonnenflecken, denn die Fenster waren Löcher in den Fassaden. (…) Es war eine grün bewachsene Wüste. (…) Das eigentliche Tiergartenviertel sah aus, daß ich an Heinz schrieb, ich hätte meine Zweifel wegen Pompeji, die Ruinen des Tiergartenviertels sähen genauso aus.“ Auf der Wanderung durch die Überreste ihres einstigen Lebens wird sie dreimal von irgendwelchen fremden Damen angesprochen, - und da blitzt wieder auf, Tergits Kampfgeist. Sie protokolliert: „Sie haben Kalk an Ihrer Jacke. Sie müssen eine Bürste nehmen.“ Bis ich auf Englisch sagte: „It does not matter a hoo“, endlich wütend über diese falsche Werteskala.“

Elise Reifenberg, geborene Hirschmann wird am 4. März 1894 in Berlin geboren. Das Pseudonym Gabriele Tergit legt sie sich erst in ihrer Studienzeit zu. Ihre Eltern sind wohlhabend, trotzdem lebt die Familie eher bescheiden zwischen Jannowitzbrücke und Schlesischem Tor, einer Gegend, in der das Mädchen Elise viele Beobachtungen beim Spielen auf der Straße macht. Die Familie der Mutter kommt aus Bayern, dort werden Rituale gepflegt, die Gabriele Tergit später als „jüdische Nestwärme“ bezeichnen wird, etwas, das ihr lebenslang Halt geben wird. Der Vater, Siegfried Hirschmann, ist der jüdische Fabrikant und Gründer der Deutschen Kabelwerke. Beide Elternhäuser sind – in abgewandelter Form - in dem Roman „Effingers“ portraitiert. Die Hirschmann Werke wuchsen zu einer Größe von 900 Mitarbeiter*innen, es wurden dort Kabel und Gummi produziert, später sehr beliebte, motorisierte Dreiräder („Cyklonette“) und auch vierrädrige Automobilein Konkurrenz zu Carl Benz. Gabriele Tergit erlebt den wirtschaftlichen Verfall dieses Familienerbes in den Zwanziger Jahren, aber auch die perfide Enteignung dieser strategisch wichtigen Firma durch die Nazis in den Dreißiger Jahren, die Verhaftung ihres Vaters wegen dem fingierten Vorwurf der Bilanzfälschung.

Zu diesem Zeitpunkt hat die junge Frau bereits ein ganz eigenes Leben aufgebaut, etwas, das sie gegen die Widerstände ihrer Familie durchgesetzt hat. Tergit besucht, gegen den Willen des Vaters, die Soziale Frauenschule von Dr. Alice Salomon, um sich auf eine Zukunft in der Sozialfürsorge oder in der Sozialpolitik vorzubereiten. Sie arbeitet in verschiedenen Kinderhorten. Mit 19 Jahren veröffentlicht sie in einer Beilage des Berliner Tageblatts ihren ersten Zeitungsartikel „Frauendienstjahr und Berufsbildung“. Ihrer Familie gefiel das gar nicht – ein Mädchen aus gutem Hause hatte nicht für Zeitungen zu schreiben! „Ich begegnete allgemeiner Verachtung.“ In ihrer „angeborenen Wirrköpfigkeit“ meldet sie sich bei Gymnasialkursen an, um ihr Abitur nachzumachen, um dann Journalistin zu werden. Zu diesem Zweck studiert sie auch Geschichte und Philosophie in München, Frankfurt und Heidelberg und 1925 promoviert („völlig überflüssig“) bei dem Historiker Friedrich Meinecke. Ende 1923 bekommt sie den Posten der Gerichtsberichterstatterin beim „Berliner Tageblatt, später ist sie Mitglied der Redaktion. Tergit heiratet den Berliner Architekten Heinz Reifenberg, mit dem sie ein lebhaftes lebenslanges Gespräch über alle ihr wichtigen Themen beginnt. Das Personalpronomen „mein“ vermeidet sie in ihrer Aufzeichnungen für ihren Mann, er ist einfach der „Heinz“. In ihren Erinnerungen schreibt sie: „Meine Zeit beim ‚Berliner Tageblatt‘ vom ersten Januar 1925 bis 1933 waren auch für mich die sieben fetten Jahre im Leben einer Generation“. Gabriele Tergit ist mittendrin im Getümmel der Großstadt, ist ein Teil der kulturellen Bohème, verliert aber bei allem nie die soziale Bodenhaftung. Der gemeinsame Sohn Peter wird geboren, sie hat ein Kindermädchen, ist hundemüde aber berufstätig, schreibt für die Redaktion, veröffentlicht 1932 ihren ersten, sehr erfolgreichen Roman „Käsebier erobert den Kurfürsten Damm“. Darin geht es um die Verbindung von Spekulationblasen und dem Kulturbetrieb: Tergits Protagonist Käsebier wird erst hochgejubelt, um dann sofort zum Abschuss freigegeben zu werden. Kurz vorher, 1927, hatte sie noch eine Reise nach Griechenland unternommen, eine Auszeit von dem Druck des Gesellschaftsbetriebs. Sie schreibt in ihren Erinnerungen: “Es wird zu viel von einem verlangt im Westen, zu viel an Klugheit. Dir Wärme zu schaffen und Licht und einen gepolsterten Sitz, das kostet viel und fettes Fleisch und wollene oder gar pelzerne Kleidung. Das verschlingt des Menschen Denken mit Haut und Haar. Hier in diesem Licht lebte ich wunschlos dem heiteren Augenblick, der klaren Freunde“. Und dennoch ist Gabriele Tergit süchtig nach dem Leben der Großstadt, will Zeugnis ablegen. In den letzten Jahren vor der Machtergreifung der Nazis beobachtet sie in vielen Details die Verrohung der Gesellschaft, den Ausbruch des Bürgerkriegs in Deutschland. „Wenn der Sturmtrupp 33 einen Abendspaziergang in Berlin machte, lagen hinterher Leute mit eingeschlagenem Schädel auf der Straße“. Das Gerichtswesen wird durch vorsätzliche Meineide ausgehebelt: „Die Seite, die die meisten Meineide schwor, gewann. Damit hatten die Nazis angefangen.“ Dass sie über einen frühen Prozeß gegen Hitler und Goebbels wegen eines Pressevergehens schreibt, wird ihr später zum Verhängnis, denn sie steht ganz oben auf der Feindesliste der Nazis. Sie beschreibt diesen Prozeß folgendermaßen:

Der ruhige Richter begann das Verhör. „Wie heißen Sie?“ „Adolf Hitler.“ „Wo sind Sie geboren?“ „Braunau am Inn.“ „Was haben Sie zur Sache zu sagen?“ In diesem Moment begann Hitler zu schreien. Er hielt eine Rede an eine Riesenversammlung, die nicht da war, er rief ein Volk auf, das nicht vorhanden war. Er keuchte, warf den Kopf zurück und redete ohne Unterlaß. Es wurde nicht klar, spielte Hitler den Hysteriker oder war er es? Jedenfalls hätte sich niemand gewundert, wenn er hingefallen wäre oder Schreikrämpfe bekommen hätte. Der Richter war sehr erstaunt über diesen völlig fassungslosen Menschen und fragte: „Warum regen Sie sich denn so auf, Herr Hitler?“ Hitler betonte immer wieder, dass er als ein so besonders anständiger Mensch seine Mitangeklagten nicht verraten werde. (…) Ich habe vierzig Jahre lang über diesen Prozeß nachgedacht, gedacht, was ich schon während des Prozesses dachte. Hitler und Goebbels saßen mir drei bis vier Meter gegenüber. Wenn ich einen Revolver besessen und sie erschossen hätte, hätte ich fünfzig Millionen Menschen vor einem frühzeitigen Tod gerettet. Ich wäre Judith II geworden. Aber wer hätte das gewußt?“

Tergits 39. Geburtstag am 4. März 1933 hätte gleichzeitig ihr Todestag werden können. Um fünf Uhr früh versucht eine Horde SA-Männer in ihre Wohnung am Tiergarten einzudringen und sie zu verschleppen. Die Worte ihres Mannes: “Nicht aufmachen“, und eine von ihm kurz vorher angebrachte Verstärkung von Tür und Schloß retten seiner Frau das Leben. Tergit verläßt Berlin am selben Tag und beginnt einen schmerzvollen Weg im Exil mit ihrem Mann und dem kleinen Sohn über die Tschechoslowakei, Palästina bis die Familie 1938 ein Zuhause in London findet.

Der 1933 auf der Flucht begonnene Familienroman „Effingers“ erzählt knapp hundert Jahre deutsch-jüdische Geschichte, von 1878 bis 1942. Tergit brennt darauf, ihn in Deutschland zu veröffentlichen, gleichzeitig ist sie skeptisch, wie dieser Roman im Land der Nazis aufgenommen wird. Die Begegnungen mit Verlegern fallen enttäuschend aus. Sie ist mißtrauisch. Das letzte noch verbliebene Manuskript der Effingers wagt sie nicht aus der Hand zu geben, auch nicht an Peter Suhrkamp. Es ist ein tiefer kultureller Bruch geschehen. Alles, was war, ist ausgelöscht, man kann nicht einfach weitermachen, wo man abgebrochen hat. Tergit schreibt: „Und nun sagte Peter Suhrkamp fünfzehn Jahre nach einer Epoche, die überfloß von Talenten: ‚Wir haben keine Manuskripte.‘ Wir hatten erwartet, daß alle Schubladen überquellen würden von Geschichten, Romanen, vor allem Dramen.“ Als der Roman schließlich 1951 erscheint, nimmt kaum jemand Notiz: „Von dreitausend Buchhändlern verkauften ihn nur dreißig. Es war vor der Währungsreform. Bis er herauskam, hatten die Leute Möbel und Kleider, Gardinen und Autos zu kaufen. Alles mußte ersetzt werden. Aber auch das Thema war tabu.“

Gabriele Tergit hat nicht resigniert, sie war eine Kämpferin. Sie verliert ihren 35jährigen Sohn bei einem Unfall in den Dolomiten. Sie lebt weiter, knüpft an an den Freundschaften der Vorkriegszeit, trifft Menschen, denen man - wie ihr - fünfzehn Jahre ihres Lebens gestohlen hat: Junge, rebellische Frauen, die plötzlich gealtert sind: „Das erste Wiedersehen versetze mir einen furchtbaren Schock. Sie waren alle gealtert. Sie waren auf grausame Weise verändert. Im Verlauf eines natürlichen Daseins lebt der Mensch mit seinen Freunden weiter. Alle werden miteinander alt. Es ist der Grund, warum Ehen halten, weil man im grauen Haar immer noch das dunkle sieht.“ Aber Tergit schreibt dann weiter über dieses Treffen: „Der Abend in dem halbdunklen Zimmer war ungemein heiter.“ Sie läßt sich nicht einwickeln, wenn Menschen die Vernichtung der Nazis verharmlosen oder leugnen, was ihr im Nachkriegsdeutschland immer wieder begegnet. „Wie wird ein Mensch mit dem Bösen fertig, seit er sich nicht mehr mit den Bösen in der Hölle und dem Guten im Himmel beruhigen kann?“

Gabriele Tergit pflegt ihren Garten in London mit großer Leidenschaft, sie verfasst 1958 ihre „Kleine Kulturgeschichte der Blumen“, widmet sich kulturhistorischen Studien. Als Sekretärin des PEN-Zentrums in London kümmert sie sich um viele Künstler*innen, denen ihre Existenzgrundlage durch den Weltkrieg zerstört worden war, sie gibt zahlreiche Berichte und Autobiographien von Autor*innen heraus. Ihre eigenen Erinnerungen „Etwas Seltenes überhaupt“ erscheinen posthum 1983. Sie enden mit einer Huldigung an das Leben: „Sie versuchten nun, das Leben nachzuholen, schnell, schnell, wie wir alle: 1914 bis 1919 Krieg und Gefangenschaft für Karl und Heinz, Inflation bis 1924. Wie viele gute Jahre? Bis 1930 etwa. Die Weltwirtschaftskrise, die Nazischatten kamen und wir zogen von Land zu Land. (…) Ich sagte im Louvre: Komm, lass uns in den Bois fahren, und wir nahmen ein Taxi und fuhren durch die schönste Straße der Welt. (…) Es war viel schöner und beglückender als dreißig Jahre früher auf unserer Hochzeitsreise in Paris. Die Welt war besser geworden. Obwohl wir uns damals viel mehr leisten konnten, hatten wir Zukunftsangst. Wir waren Kinder reicher Eltern, deren Geld in der Inflation völlig verschwunden war. Man konnte nicht glücklich sein. Aber jetzt waren wir zusammengewachsen wie ein Mensch, allen ging es gut. Es waren himmlische Tage.“

*Der Titel ihrer Erinnerungen „Etwas Seltenes überhaupt“ bezieht sich auf den Ausspruch eines Redaktionskollegen, der Gabriele Tergit als „etwas Seltenes überhaupt“ bezeichnet hatte.

Viola Hasselberg