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Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit

Zum Harlan-Prozeß

Wenn es je eine dramatische Gerichtsverhandlung gab, dann diese am Freitag, 4. März gegen Harlan. Harlan, ein Berliner, klein und quick, ganz große Intelligenz, genau der Typ, bei dem das ganze Ausland fragt: „Na, da war doch zum Beispiel der X. Hat der das auch mitgemacht? Rätselhaft!“ Eugen Klopfer, alt geworden, mit einem kranken Bein, ein Süddeutscher, der Typ des großen Mimen, fast des Komödianten, ein Geschöpf dieses instinktiven, durch und durch künstlerischen, spielfreudigen Landstrichs. Genau so würde Harlan selber die Typen abgewogen, die Rollen besetzt haben. Und dann kommt als Dritter ein bürgerlicher Kaufmann, ein ganz gerader einfacher Mann und erzählt völlig ohne die Harlanschen Lieblingsausdrücke „gewaltig“ und „dämonisch“ das Schicksal der deutschen Juden vom Boykotttag des Jahres 1933 an bis zum Tod in Auschwitz, dem er entrann, während seine Frau und sein Sohn, ein Dreijähriger, vergast wurden.

Nichts ist mehr rätselhaft an den deutschen Intellektuellen, nachdem Harlan zwei Tage sprach. Da ist zuerst das Nichtnachdenken darüber, was mit den Juden passierte. „Ich konnte mir vorstellen, dass es Pogrome gab. Ich wusste von der Kristallnacht, aber das konnte sich niemand vorstellen, dass eine ganze Menschengruppe von Regierungs wegen gemordet wurde“. Dann die Geschichte des „Jud Süß“-Films: Jede Filmfirma hatte einen antisemitischen Film im Jahr zu drehen. Er soll den „Jud Süß“ drehen. Er bekommt das Drehbuch. Er wird zu Goebbels bestellt. Er spricht seine Meinung aus: „Das ist kein widerliches Drehbuch, sondern das ist ein widerlicher Film, ein unästhetischer Film.“ – „Sie haben völlig recht“, sagte Goebbels. Und so schreibt Harlan das Drehbuch um. Er nimmt die abstoßenden Szenen raus. Er will aus dem „Jud Süß“ einen gewaltigen, einen dämonischen Menschen machen. Jannings, Willi Forst, Marian schlug Goebbels als Besetzung vor. „Jannings und Klopfer, das geht nicht, zwei solche Kolosse. Forst war zu halbseiden, blieb Marian. Marian sagte: „Ich gebe dir mein Wort, ich mache es nicht.“

So stehen sie bei Goebbels. Marian sagt, er will nicht. „Ich weiß, ich weiß“, sagt Goebbels, „daß Sie alle nach Hollywood wollen. Kommt nur darauf an, wer der Stärkere ist.“

Und Marian sagt: „Ich will mich nicht aus meinem Fach herausspielen.“ – „Wer wird Sie in Zukunft besetzen? Ich oder das deutsche Publikum?“ – „Sie natürlich, Herr Minister.“ Aber Goebbels blieb nicht sanft: „Ihr wollt gut verdienen, aber die Partei wollt ihr nicht.“ Goebbels tobte, Goebbels schrie. „Raus“, schrie er Marian an, „raus.“ Goebbels veränderte den Text. Harlan holt Erich Engel zu Hilfe. Der rät: „Mache die andern so scheußlich, wie du kannst, mache den Juden so gut, wie du kannst.“ – „Ich glaube“, fährt Harlan fort, „dass der Jud Süß eine entsetzliche Gestalt war, dass es Feuchtwangers Schuld ist, dass er aus einem solchen Scheusal ein Idol gemacht hat.“ Harlan machte ihm einen grandiosen Schluß mit den historischen, heroischen Worten des Süß. Aber Goebbels nennt ihn instinktlos, ändert ihn völlig. „Ich bin kein Antisemit. Ein Künstler liebt Gottes Welt, wie sie ist, sonst könnte er sie nicht gestalten. Es war schon gräßlich genug, mit diesen Dingen etwas zu tun gehabt zu haben.“ Er stand unter Druck, er fürchtete sich. Er sagt sogar, daß er unter dienstlichem Befehl stand. Goebbels kümmerte sich um alles, bis aufs Nasenkleben. „Das waren Fakire, furchteinflößend, ausweglos.“ Er spricht vom unerbittlichen Dämon Goebbels. „Wer bin ich?“ fragt Harlan, „Warum jagt man mich, einen Filmregisseur? Ich stelle die Scheinwerfer, ein Handlanger, ein Darsteller.“ Man kommt dem Punkt nahe, dem entscheidenden Punkt, warum sich Harlan falsch benommen hat und es auch heute noch nicht weiß, wenn man ihm zugestehen sollte, daß er unter Druck gehandelt hat. „Für mich kam es nur darauf an, das Drehbuch zu ändern und zu mildern.“ „Warum hat ‚Der Ewige Jude‘ nicht gewirkt?“ fragt der Richter. “Wahrscheinlich ist er schlecht, dramatisierter ‚Stürmer‘, er hat die ästhetischen Gesetze nicht beachtet, aus der Schachtszene sind die Leute rausgelaufen. Mein Film ist ein Kunstwerk. Ich wollte ihn so künstlerisch wie möglich machen. Ich habe doch nur die Möglichkeit, Propaganda in Kunst umzuwandeln.“

„Aber Marian hat geahnt, dass es etwas andres gibt.“ Der Vorsitzende hält es Harlan vor. Marian hat absichtlich schlecht gespielt. Alle Schauspieler beschlossen, schlecht zu spielen. Harlan hätte das nicht mitgemacht. Harlan widerspricht: “Das gibt es nicht. Er wäre ja kein Schauspieler, wenn er nicht gut spielte.“ Und hier sind wir beim Kernproblem nicht des Veit Harlan und seines „Jud Süß“, sondern beim Kernproblem des führenden deutschen Geistigen überhaupt. „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun.“ Sehr wunderbar, wenn diese Sache nicht Verbrechen denkt. Daß auch heute noch Harlan, der wohl zu unterscheiden weiß zwischen Gut und Böse, daß er auch heute noch sagt: „Mein Film ist ein Kunstwerk. Ich habe doch nur die Möglichkeit, Propaganda in Kunst umzuwandeln.“ Das löst das Rätsel des deutschen Intellektuellen. Warum hat Harlan nicht das widerliche Drehbuch von Goebbels nur noch widerlicher gemacht, so widerlich, daß keiner sich diesen Film hatte ansehen mögen? Nur gute Kunst ist Propaganda. Schlechte ist keine. Das einzig richtige ist, was Marian wollte, schlecht spielen. Mist schreiben. Filme drehen, daß die Kinos leer gewesen wären. Alle Tempi verzerren. Alle Einsätze verhauen, so daß sich keiner mehr die „Neunte“ hätte anhören mögen. Das ist echter Widerstand. Niemand weiß, ob Europa unzerstört wäre und die Juden am Leben, wenn Harlan und alle wie er nur widerliche Drehbücher von Goebbels in ihrer ganzen Scheußlichkeit gezeigt hätten, wenn sie ihr göttliches Talent nicht dazu benutzt hätten, Kunst daraus zu machen, aber das große Erbe der Deutschen wäre unbesudelt. Das ist die große Kernfrage im Harlan-Prozess. Nach Harlan kam Klopfer, der den verfemten und schließlich in den Tod getriebenen Gottschalk vier Jahre lang an seinem Theater beschäftigte. Aber in seinem Theater konnte er drohen, er werde die Direktion niederlegen. Im Film konnte er das nicht. Er sagt: „Ich war froh, wenn ich in mein Theater zurückkam.“ Herr Wollheim gab nur die Tatsachen und die erschütternden Zahlen seines eigenen Transports. Am 27. Februar 1943 sind von 1000 Leuten 750 gleich umgebracht worden. Von 250, die als Zwangsarbeiter versendet wurden, blieben sieben bis acht übrig. Und er spricht von der Angst der Juden, als man von diesem Film 1940 hörte, daß er der Auftakt sein würde zu neuen Pogromen, und wiederum von der gleichen Angst, als man im Konzentrationslager die Nachricht bekam, der Film wurde der SS vorgeführt. Herr Wollheim endete seine Darstellung mit einem versöhnenden Schluß, sehr großartig aus seinem Munde: „Ich habe den Film zum ersten Mal vor einem Jahr gesehen. Es ist ein Wunder, daß die Zuschauer damals nicht in die jüdischen Wohnungen eingedrungen sind und ihr Mütchen gekühlt haben. Aber es ist nirgends geschehen.“

(4. März 1949)

Ein Mordprozeß

Im Bahnhofsrestaurant von Salzburg sprach mich ein Herr an:„Sie kommen aus dem Ausland, ich möchte Ihnen sagen, hier sind viele empört über das Urteil in dem Prozeß.“ Nur im Krieg oder bei aufwühlenden Begebenheiten sprechen Menschen so einander an. Der Herr meinte den Prozeß gegen die Judenmörder von Stanislau, die Brüder Mauer. Dreißig Zeugen aus Israel, USA, Polen, der Bundesrepublik schilderten grausige Einzelmorde der Brüder und ihre Teilnahme am 12. Oktober 1941 am Massenmord der 12 000: „Sie waren der Schrecken des Ghettos.“ –„‘Komm mit‘ war das Todesurteil.“ Die Brüder Mauer leugnen alles, erkennen keinen der Zeugen wieder. Sie sind Polen, haben in der polnischen Armee gegen Deutschland gekämpft, wurden dann SS-Oberscharführer. Johann war bis zu seiner Verhaftung Leiter des evangelischen Hilfswerks, Wilhelm Präfekt des evangelischen Schülerheims. Sie halten die Anklage für eine „abgekartete gelenkte Sache. In Salzburg müßte wie in andern großen Städten ein Prozeß dieser Art gemacht werden, damit dieses Geschäft nie einschläft.“ Sie beschuldigen jüdische, kommunistische, österreichische Organisationen. Aber das Verfahren war auf Veranlassung der Zentralstelle in Ludwigsburg zustande gekommen. Es war davon die Rede, daß sie als ehemalige Angehörige der polnischen Armee sich besonders bewähren mußten – „sadistische Fleißaufgaben“, nannte es einer. Johann Mauer aber sagte: „Es ist die Pflicht der Juden, jeden Deutschen als Mörder zu bezeichnen. Es gibt zwar Juden, die uns entlasten würden, aber sie dürfen es nicht. Genauso wie wir damals die Juden nicht entlasten durften.“ Nur der Sachbearbeiter für Judenfragen in Stanislau, Schott, der aus Deutschland aus der Untersuchungshaft vorgeführt wurde, gab ein Bild. Kranke Juden wurden erschossen. „Einmal wurde die Frage aufgeworfen, ob man zu den kranken Juden nicht einige gesunde dazu nehmen sollte, damit es sich rentiere, denn wegen sieben Juden - wie es einmal der Fall war - wollten wir nicht extra einen Wagen bestellen.“ Es kam die Ganovenehre der SS zur Sprache, als ein Untersuchungsrichter aus Deutschland sagte: „Die meisten der in Deutschland angeklagten SS-Angehörigen belasteten niemanden aus der Dienststelle. Vorgesetzte sind bereit, die Schuld für alle auf sich zu nehmen.“ Man hörte, daß es möglich war, sich an den Massakern, „Aktionen“ auf Nazideutsch, nicht zu beteiligen. Ein Zeuge Sterzl hatte dem SS Hauptsturmführer erklärt, er sei nicht in der Lage, auf Frauen und Kinder zu schießen. „Sie Pfeifenkopf“, erwiderte der und löste Sterzl ab. Er sei jedoch nie wegen Befehlsverweigerung zur Verantwortung gezogen worden. Als der Staatsanwalt die Zahl 12 000 für die Massenerschießungen in Stanislau nannte - das übliche Verfahren zur „Endlösung“ vor der Errichtung von Gaskammern -, erklärte der Verteidiger dies für „maßlos übertrieben“. Aber am 1. März 1943 hatte sich die Zahl des betroffenen Generalgouvernements (vorwiegend Juden) seit 1940 um 2,2 Millionen verringert. Die österreichischen Verfahren sind völlig verschieden von den deutschen, wie es ein vorzüglicher Artikel der „Salzburger Nachrichten“ ausführte: „Österreich hat sich erfreulicherweise zu einer Absage an jede Art von Ausnahmegesetzgebung entschlossen. Es gibt keine Sonderbehandlung von Kriegsverbrechen in unserm Land. Aber Mord verjährt nicht, Lustmord nicht, Raubmord nicht, Christenmord nicht, Judenmord nicht.“ Aber die Geschworenen sprachen die von dreißig Menschen Beschuldigten frei. Der Vorsitzende erwiderte sofort: „Die Entscheidung wird ausgesetzt, das Verfahren dem obersten Gerichtshof vorgelegt. Die Verhandlung ist geschlossen.“ Die Richter, die Presse, der Fremde auf dem Bahnhof waren empört. Die Regierung hatte eine Million Schillinge für den Prozeß ausgegeben. Aber das „Volk“? Von 21 geladenen Geschworenen meldeten sich nur sechs. Acht blieben ohne Entschuldigung fort. Bei jedem Irrtum der Zeugen lachten die Zuhörer und klatschten, riefen den Angeklagten Bravo zu. Der Vorsitzende mußte die Zuhörer hinausweisen. Der Verteidiger argumentierte: „Wenn Deutschland den Krieg nicht verloren hätte, würden die Angeklagten nicht vor Gericht stehen.“ Er stellte also den Mord an waffenlosen Nonkombattanten als Kriegshandlung dar. Ein Geschäftsmann sagte bei einer Umfrage: „Die Geschworenen haben nach den Beifallskundgebungen für die Angeklagten nicht gewagt, einen Schuldspruch zu fällen.“ In Wien demonstrierten sozialistische Studenten gegen das Urteil, stellten in einem Flugblatt fest: „Die jahrelang betriebene Politik des Totschweigens und der Verharmlosung der Naziverbrechen hat offenbar die Geschworenen beeinflußt.“ In Salzburg erhielten alle Beteiligten Karten und Briefe teils mit Schmähungen, teils mit Beifall. Aber die schwere Frage von 1932 erhebt sich, was macht man in einer Demokratie mit einem Volk, das für Mörder eintritt? Soll die Regierung ein anderes Volk wählen, wie Brecht in anderem Zusammenhang meinte?

(April 1966)

Die Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit sind in zwei Ausgaben erschienen: „Wer schießt aus Liebe“, Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit. Jens Brüning (Hg). Berlin 1999 und neu herausgegeben im Verlag Schöffling & Co: „Vom Frühling und von der Einsamkeit. Reportagen aus den Gerichten.“ Mit einem Nachwort von Nicole Henneberg, Frankfurt 2020.