MK:

Digitales Programmheft "Asche"

„Welche Anzahl von Welten nehmen wir an? Wie viele habe allein ich schon verbraucht?“ Eine Erzählerin führt uns in unermüdlichem Selbstgespräch durch ihren Versuch, etwas zu verstehen und zu ordnen, wo es vielleicht nichts mehr zu verstehen und zu ordnen gibt, sondern ein großes, allumfassendes Gefühl der Trauer alles Übrige verdrängt. Elfriede Jelineks jüngstes, zutiefst persönliches Stück „Asche“ ist der dritte Teil einer Trilogie, in der es um den Abschied von der Erde geht, die die Menschen zerstört haben. „Asche“ ist ein Text über das bereits „Verbrannte“. Das, was vorher lebendig war, ist nicht mehr wiederzuerkennen, hat seine Gestalt, seinen Duft, seinen Blick verloren. „Ich hab ein glühend Messer in meiner Brust, keiner zieht es mir raus, weil sonst an dieser Stelle ein Loch bliebe zum Durchschauen.“ Die Erzählerin hat ihren Gefährten verloren, den einzigen Menschen, der für sie zählte. Der Verlust stürzt alle Koordinaten ins Haltlose, den Blick auf sich selbst und den eigenen Körper, aber auch den Blick auf die Welt. Nichts ist mehr da, wo es hingehörte. Das hat allerdings auch hochkomische Züge: Je mehr sie versucht, Ordnung zu schaffen, desto mehr Unordnung entsteht. Die Erzählerin sucht ihre eigenen, verrutschten Körperteile und findet sie an unmöglichen Stellen wieder. „Bitte, was ist jetzt mit dem Körper? Bitte meinen nicht anschauen, auf Fotos andere bewundern.“ Mit gnadenlosem Sarkasmus führt sie uns ein „Alter ohne Gott“ vor, in dem wir schutzlos und im Kreis über die dunkle Heide irren. Weil wir verdammt nochmal nicht wissen, wie wir bloß jetzt von hier wegkommen sollen, und außerdem ist der Fahrkartenautomat wieder mal kaputt.

Die Erzählerin guckt auch über ihren eigenen Horizont hinaus und versucht, noch einmal etwas neu zusammenzusetzen: „Alles auf Anfang“! Selbst wenn es nur darum geht, zu verstehen, wie wir in diesen Schlamassel gekommen sind, warum uns kein Gott mehr haben will und warum wir Menschen mit einem so einzigartigen Talent ausgestattet sind, alles, aber auch wirklich alles kaputt zu machen? Die Erzählerin schaut bei Platon und Hesiod nach. Vielleicht ist hier ja eine tröstliche Betriebsanleitung zu finden, nach der die Natur und die ganzen Menschen, die als „böse Gäste“ die Erde verkonsumieren, besser miteinander auskommen würden? Leider Fehlanzeige, jetzt wird`s völlig abstrus: „Sagen wir, die Erde ist ein Würfel!“ (sagt Platon). Und der Gott, der immer schon gerne mit diesem Würfel rumgeschmissen hat, ist entschlussschwach und drückt sich vor der Entscheidung, wer die ewigen Verlierer sind auf der Erde. Dabei könnte man das inzwischen doch ziemlich deutlich sehen. Wer wird zuerst überflutet, wer verbrennt als erstes? Hesiod hilft uns auch nicht aus der Patsche mit seiner Titanen-Parade, einer vor Gewalt strotzenden Familiengeschichte, in der der Vater seine Kinder hasst und Gaia, die Mutter Erde, mit ihrem Sohn einen Komplott gegen den Vater schmiedet. „Hol`s der Geier, die Gaia, die Erda ist an allem Schuld“. Hauptsache nicht wir!

Wenn wir Menschen uns nicht ändern können (oder wollen), muss die Natur sich eben ändern. Schleunigst. Dafür entwirft Jelinek eine Zukunft auf einer Parallelerde, ohne kaputt gehende Körper, ohne Störungen, ohne Anfang und ohne Ende. (Es entfährt ihr an dieser Stelle ein „Gähn“.) Vorläufig aber sind wir noch nicht tot. Wir sind noch da, atmen, singen, schreiben, hören zu. Auch wenn es heiß unter unseren Sohlen wird. „Singet nicht! Blühet nicht!“ ruft die Erzählerin. Wir können sie immer noch hören, die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ von Gustav Mahler, denen Jelinek beim Schreiben von „Asche“ gelauscht hat. „Asche“ ist ein Stück Sprachmusik, und so webt Falk Richters Inszenierung Motive aus Text, Musik und KI-Bildwelten dicht ineinander.

Viola Hasselberg

Porträt von Elfriede Jelinek

„Und am Ende wird ein Schiff kommen und mir den Einen nehmen, den ich so lieb, wie keinen“.

Die Facetten des Verlustes, sei es die menschengemachte Abschaffung unserer Lebensgrundlage oder die Verabschiedung eines geliebten Menschen, bilden den Resonanzraum von „Asche“.

Lesen Sie hier, wie Elfriede Jelinek im April 2024 über ihren eigenen Schreibprozess reflektiert: „Asche zu Asche“.

„Mein lieber Schatz, wir werden keinen Boden mehr unter den Füßen haben, wir werden selber Boden sein, ist das nicht fein!“ Mehr…

„Mir wird klar, daß das auch viel mit meinem eigenen theatralen Verfahren zu tun hat, wo es überhaupt egal ist, wer der eine und wer der andre ist, sie (die Darsteller) sind Sprache, die sich selbst entlarvt“, schreibt Elfriede Jelinek in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des französischen Ordens „Ordre des Arts et des Lettres“ im April 2024.

Lesen Sie hier die gesamte Rede von Elfriede Jelinek.

Sehen Sie hier den Trailer zum biographischen Dokumentarfilm „Elfriede Jelinek: Die Sprache von der Leine lassen (2023)“ von der Regisseurin Claudia Müller.

Immer wieder zitiert Elfriede Jelinek in „Asche“ Gustav Mahlers „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Mit neunzehn Jahren bekennt der Komponist verzweifelt, zwischen Lebenskraft und Todessehnsucht hin- und hergerissen zu sein. In seinen Liedern inszeniert er diese Vielschichtigkeit.

Hören und erfahren Sie hier mehr in der WDR-Audiothek.

„Kling, kling, schönes Ding! Wie mir doch die Welt gefällt! Nur ich gefalle keinem mehr. Keiner dreht sich mehr nach mir um.“ Mehr…

In „Asche“ erfahren wir etwas über die kranke Erde auf der sehr „böse Gäste“ hausen. Feuer, Wasser, Erde, Luft sind aus den Fugen. Lesen Sie hier einen Auszug aus „Landkrank“ (Suhrkamp Verlag 2024). Ein Essay des in Paris lebenden dänischen Soziologen Nikolaj Schultz: Über Schlaflosigkeit und Schuld im Anthropozän.

Mit beispielloser Geschwindigkeit sterben weltweit Tier- und Pflanzenarten aus. Das Ausmaß des Artensterbens gefährdet auch das Überleben der Menschheit, so Prof. Dr. Matthias Glaubrecht von der Universität Hamburg. In seinem Buch „Das Ende der Evolution“ analysiert der Evolutionsbiologe Ursachen und mögliche Folgen des Massenaussterbens.

Lesen Sie hier das Interview mit Prof. Dr. Matthias Glaubrecht.

Ein vollkommenes, unkaputtbares Wesen, womöglich in einer parallelen, neuen Welt – das ist Elfriede Jelineks Vorschlag am Ende von „Asche“. In dem Buch „Vom Ende der Endlichkeit. Unsterblichkeit im Zeitalter Künstlicher Intelligenz“ (Goldmann 2020) gehen die Autoren Moritz Riesewieck und Hans Block der Frage nach, inwiefern die Sehnsucht nach einer digitalen Überwindung des Todes heute bereits Wirklichkeit ist.

Lesen Sie hier einen Auszug.

„Weisen wir der Erde eine bestimmte Gestalt zu? […] Sagen wir, sie ist ein Würfel“.

Als Inspiration für diese unkonventionelle Auffassung dient Elfriede Jelinek Platons „Timaios“.  Das Werk des antiken Philosophen ist eine der ersten naturwissenschaftlichen Abhandlungen der Geschichte und beschreibt die Entstehung und Ordnung des Kosmos.

Wie Jelinek in „Asche“ auf Platons Werk und dessen Elementenlehre zurückgreift, können Sie hier in einer Gegenüberstellung der beiden Texte nachlesen.

Hesiod erzählt die Entstehungsgeschichte der Erde und der Götter in seiner „Theogonie“ als ein von Gewalt und Rache durchzogenes Narrativ.

Lesen Sie in dieser Gegenüberstellung, wie Elfriede Jelinek in „Asche“ die komplizierten Familienverhältnisse aufgreift.

Der Philosoph und Meeresbiologe Andreas Weber plädiert für eine grundsätzlich neue Sichtweise auf das Zusammenspiel von Natur, Mensch und Ökonomie.

Erfahren Sie hier mehr.

Patti Smith brachte den Song „My Madrigal“ 1996 raus. Katharina Bach singt ihn in der Inszenierung „Asche“ in einer Version von Matthias Grübel.

Lesen Sie hier den Songtext.

Es ist ein sehr persönlicher Text voll Wehmut und Poesie, den Elfriede Jelinek ihrem Mann, dem 2022 plötzlich verstorbenen Gottfried Hüngsberg widmet.

Sehen Sie hier einen kurzen Vorbericht des ORF zu „Asche“.

„Was waren wir doch für böse Gäste! Nimmer hielten wir Ruh, nimmer hielten wir Rast, nicht bei Tag, noch bei Nacht, wenn wir schliefen.

Die letzten werden kein Grab mehr gekriegt haben, weil ihre letzten Gefährten zu faul zum Graben waren.“

– Elfriede Jelinek: „Asche“