MK:

Digitales Programmheft „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“

„Als lebten wir in einem barmherzigen Land“

erzählt die Geschichte eines Duells zwischen einer Grundschullehrerin und einem Killer. Der Kontrast könnte größer nicht sein und A. L. Kennedy mag es, zu polarisieren, ihr Gedankenspiel mit ihren Figuren möglichst weit zu treiben. Anna, die Grundschullehrerin, kämpft für das Gute, das sie jungen Menschen am Beginn ihrer Reise mitgeben will, wie einen Rucksack fürs Leben. Das ist in unbarmherzigen Zeiten zuweilen eine heldenhafte Aufgabe. Niemand weiß das so genau wie die Autorin, deren Mutter selbst eine unerschrockene Lehrerin war, die ihrem Kind das Geschichtenerzählen beibrachte, als Überlebenstechnik gegen alle Anwürfe von Zweifeln und Verzweiflung. Bitte niemals den Humor verlieren!

Anna hat in ihrer studentischen Vergangenheit als Stand-Up-Comedian Straßentheater gemacht. Als Mitglied eines bunten Clown-Orchesters versuchte sie, mit Trommeln und Akrobatik die Welt zu verändern, mit Blumensträußen gegen die Polizeiaufmärsche. Dabei gab es für Anna auch eine Liebe zu einem geheimnisvollen Mann – Buster. Dieser hatte sich als erfahrener „Para-Theatermacher“ in die Gruppe eingeschleust und wenig später auch in Anna „hineingeschluchzt“ – mit einer dramatischen Geschichte und seiner Frage von Hoffnung auf Vergebung.

Und Anna erzählt ihm damals ein heilsames Märchen: vom Mörder, der um Vergebung bittet, und der sie dadurch erhält, dass Gott die Landkarte unter dem Hintern dieses Mörders so bewegt, dass er zum Sterben knapp hinter der Grenze eines barmherzigen Landes landet – dort, wo ihm tatsächlich vergeben werden kann. In dieser Nacht lieben Anna und Buster sich auf dem Küchenboden. Doch bald stellt sich heraus, dass Buster nicht ist, wer er vorgibt zu sein, sondern ein Polizeispitzel, der die Gruppe ausspioniert und verrät. Dieser Verrat an ihrer Liebe und am Engagement der ganzen Gruppe reißt eine tiefe Wunde in Anna, die sie zeitlebens nicht mehr loswird. Als sie Buster in einer absurden Gerichtsverhandlung gegen die einstige Theatergruppe im Jahr 2019, kurz vor der Corona-Pandemie, wiedersieht, folgt sie ihrem spontanen Impuls, ihn zu verfolgen und endlich zur Rede zu stellen.

„Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ handelt von dieser Jagd. Auf der einen Seite Anna, die Buster endlich ihre Wut ins Gesicht schleudern will und die das Monster des Verrats und des Bösen abschütteln möchte. Auf der anderen Seite Buster, der vom Polizeispitzel zum Serienkiller geworden ist. Genau wie Anna nimmt er für sich den Anspruch, im Sinne des Guten zu handeln. Mit der Bitte um Vergebung legt er ihr seine Lebensbeichte in Form eines Tagebuchs vor die Tür. Es kommt zu einem gefährlichen Showdown.

A. L. Kennedy verwebt zwei Perspektiven mit zwei Sprachen, zwei Sichtweisen der Welt, die von gegensätzlichen Prämissen ausgehen. Die Autorin beobachtet in ihrer Heimat Großbritannien mit beträchtlichem Ekel und galligem Humor einen stetigen Zerfall der demokratischen Kultur, aber das „unbarmherzige Land“, von dem ihre Geschichte handelt, kann überall sein, wo Menschen aufgehört haben an die Zukunft und aneinander zu glauben. Lohnt es sich, an das Gute zu glauben angesichts des offensichtlichen Erfolgs des Bösen? Wie viel Böses steckt im Guten?

Kennedy ist alles andere als naiv, viel eher gibt sie uns am Ende eine realistische Antwort. Und die ist ein Geschenk. Besonders für alle, die ihre Stimme nicht automatisch selbst erheben können. In der Inszenierung von Sandra Strunz wird das Duell als hautnahes Schauspielertheater zweier Kontrahenten erlebbar, die jeweils tief in die Welt des anderen eindringen. Dritter kongenialer Mitspieler ist der Live-Musiker Peter Pichler mit seinem „Trautonium“, einem Ur-Synthesizer, der Singen und Krächzen und noch vieles mehr kann, und der einmal gedacht war als visionäre Bereicherung für jeden Haushalt – bis die Ära des Faschismus ihn zum Verschwinden brachte.

Viola Hasselberg

A. L. Kennedy unterzieht im Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“ die britische Gesellschaft einer grimmigen Kritik.

Eine Literaturkritik von Beat Mazenauer.

– A. L. Kennedy in ihrem Roman über Großbritannien.

Lesen Sie hier eine Literaturkritik von Paul Jandl in der NZZ.

Unabhängig von der Krise findet A. L. Kennedy eine kraftvolle Sprache, ohne dabei den Humor aus den Augen zu verlieren. In ihrem Werk „Das Buch meines Lebens“ diskutiert sie mit Jagoda Marinić über ein verkommendes London, Kulturpessimismus und warum sie immer sein wollte wie Mr. Hyde.

Hören und sehen Sie sich das einstündige Gespräch von Arte hier an.

Im Oktober 2023 wurde A. L. Kennedy von den Münchner Kammerspielen eingeladen, um über das Thema „Hass“ zu sprechen. Der Wunsch war, zu verstehen, woher der Hass in diesen turbulenten Zeiten seine Kraft zieht und warum er sich so ungebremst vermehren kann. A. L. Kennedy sprach stattdessen über die Liebe.

Lesen Sie hier einen Ausschnitt ihrer Rede. Der gesamte Text liegt als kostenloses Booklet in unseren Foyers für Sie aus.

Confessions of an Undercover Cop (2011)

Sehen Sie hier eine Dokumentation über den Polizisten Mark Kennedy, der acht Jahre lang undercover als engagierter Aktivist die Umweltbewegung und linksextreme politische Gruppen in Europa infiltriert hat. In diesem Cutting Edge-Film erörtert er die Folgen seines Handelns, da die Polizeibosse behaupten, er habe vergessen, wer er wirklich ist. Er ist ein Vorbild für die Figur Buster in A. L. Kennedys Text „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“.

Peter Pichler sitzt an seinem Instrument, dem Trautonium. Das Trautonium sieht aus wie eine Mischung aus einem Klavier und einem Mischpult.

Peter Pichler aus München ist Grenzgänger verschiedener Kunstrichtungen. Der Multi-Instrumentalist ist aktuell der einzige Künstler, der den fast vergessenen Ur-Synthesizer „Trautonium“ und dessen Originalkompositionen live auf der Bühne spielt.