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Polen und Deutsche – Deutsche und Polen

Karl Dedecius

Polen und Deutsche in Europa

Aus einem Vortrag für europäische Austauschstudierende in Kraków, 1994

Europa ist ein geographischer Begriff, ein geistesgeschichtlicher Begriff und ein ideologischer und politischer obendrein. Europa ist eine historische Vergangenheit und eine futurologische Aufgabe, ein auf Phantasie und Mut angewiesener Blick in die Zukunft. Europa ist aber auch das, worunter die Lebenden am meisten zu leiden haben. Eine akute Kalamität. Wir in der Mitte Europas können ein Lied davon singen, ein deutsch-deutsches Lied, das falsch in den Ohren klingt, dann auch ein deutsch-französisches, ein etwas leidlich temperiertes einerseits und auch ein deutsch-polnisches, ein sehr sensibles andererseits. Beschränken wir uns auf die vertrackteste Beziehung unserer Geschichte, auf Polen, das zu Europa genealogisch gehört und das zu Europa unlogisch nicht gehören soll, und zwar aus Gründen, an denen wir nicht ganz unbeteiligt gewesen sind. Polen in Europa: das heißt über den eigenen Schatten springen. Darüber hinaus – jenseits des Schattens – zu bedenken, ob es recht und nützlich sei, immer nur bei den Spannungen und Misslichkeiten zu verharren, als ob diese nicht auch eine konstruktive Kehrseite hätten: die Tradition der Gemeinsamkeit, den permanenten geistigen Austausch, (…) die gegenseitige Anziehungskraft und Wechselwirkung der produktiven Gegensätze. Die Geschichte Mitteleuropas reduziert sich nicht auf die letzten Jahrzehnte, auf Hitler und Stalin, auch nicht auf die Teilungen Polens, an denen Preußen – nicht ganz Deutschland – damals mitschuldig geworden ist. Unsere gemeinsame Kultur ist tausend Jahre alt, und daran sollten wir uns heute erinnern und halten. (…)

Die weit verbreitete Behauptung von der Erbfeindschaft zwischen den Völkern, den Deutschen und den Polen vor allem, nannte der polnische Historiker Kaminski 1973 in Warschau eine Geschichtsfälschung und eine Zwecklüge. „Ich kenne keine zwei Völker“, sagte er wörtlich, „die so nahe verwandt sind, wie die Deutschen und die Polen.“ 600 Jahre lang war die deutsch-polnische Grenze die friedlichste in Europa.

(…)

Die Einsicht der eigenen Schuld und der Verzicht auf Rache für die Schuld der anderen ist im persönlichen Leben, wie im Leben der Völker die Grundvoraussetzung eines jeden internationalen, also auch europäischen Friedenskonzepts. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm die europäische Politik eine für Polen verhängnisvolle Entwicklung. Die Kaiserin von Rußland regte die Teilung des Weichsellandes an, Preußen kam dieser Vorschlag gelegen; in drei kurz aufeinanderfolgenden Streichen (1772, 1793 und 1795) war die zwischen Rußland, Preußen und Österreich ausgemachte Sache vollzogen. (…) Mit dieser Teilungspolitik wurden in Europa tiefe Gräben gegraben und der Nationalitätenhass geschürt und machtpolitisch ausgenutzt. (…)

Deutsche Dichter nahmen an den Ereignissen im Nachbarland lebhaften Anteil. In Frankfurt war zu jener Zeit die Polen-Frage der Prüfstein des historischen Bewusstseins und demokratischer Gesinnung. Das Bürgertum in Frankfurt hatte Polens Partei ergriffen. Als dort 1832 aus Hanau zu Schiff 7000 polnische Flüchtlinge ankamen, gewährte der Stadtrat von Frankfurt zu ihrer Unterstützung spontan einen Betrag von 30000 Gulden - und das, obwohl es der Stadt damals gar nicht gut ging. (…) Bei der Durchreise der polnischen Flüchtlinge durch Sachsen, Franken, Hessen und die Pfalz schlug ihnen überall eine Welle der Sympathie entgegen. (…) Polens Nationaldichter Adam Mickiewicz, in der Zeit der polnischen Aufstände Emigrant in Dresden und in Paris hat am 24. April 1833 in der Zeitung „Pielgrzym Polski“ einen prophetischen Beitrag veröffentlicht, der „Vom Streben der Völker Europas“ hieß. Dieser Beitrag ist heute, nach über 160 Jahren, unter umgekehrten Vorzeichen genauso gültig wie damals. Hier eine Passage daraus:

„Welcher ist im Augenblick der erste, wichtigste, lebendigste Wunsch der Völker? Wir zögern nicht zu sagen, dass es der Wunsch nach Verständigung, Vereinigung, nach Zusammenschluss der Interessen ist. Kann es etwas Schändlicheres geben als jenes alte Vorurteil, dass eine von der Hand der Könige quer durchs Land, oft durch eine Stadt gezogene Linie die Bewohner, sogar Verwandte, in Landsleute und Fremde, in natürliche Feinde trennen darf? Es kommt hinzu, dass jeder Europäer, der von einem Ort in einen anderen zieht, nicht nur alle politischen und zivilen Rechte einbüßt, sondern auch, im Voraus der Verbrechen verdächtigt, sich mit Kennzeichen und Zeugnissen ausstatten muss. Die Gewohnheit hat viele sonst anständige Menschen gefühllos gemacht…“.

Tomasz Kranz

Deutsche und Polen. Gestern und heute.

Aus den Materialien zur gemeinsamen Konferenz der Gedenkstätten Buchenwald und Majdanek. (Lublin – Weimar, 1993)

Viele Politiker und Historiker betonen häufig, dass die gegenseitigen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen eine besondere historische und moralische Qualität haben. (…)

Vor 20 Jahren, genau am 14. September 1972, kam es zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen. Dies war ein bedeutsamer Prozess im Normalisierungsprozeß, der offiziell mit dem am 7. Dezember 1970 unterzeichneten Warschauer Vertrag eingeleitet worden war. (…)

Es läßt sich leider nicht sagen, daß die Annäherung der Polen und Deutschen und der Prozess ihrer Versöhnung weit fortgeschritten ist. Die beiden Nationen stehen sich nach wie vor ziemlich fremd und zurückhaltend gegenüber. Weiterhin wird geglaubt, daß es viele durch die Vergangenheit geschlagene Wunden zu schließen gilt und die historischen Hypotheken belastet sind. Zu den wichtigen Faktoren, die die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen hemmen, gehört die in Deutschland und Polen unterschiedliche Wahrnehmung und Deutung der Folgen des Naziregimes. Der zweite Weltkrieg mit all seinen tragischen Konsequenzen, wurde zu einer riesigen Belastung im gegenseitigen Verhältnis und schuf für mehrere Jahre eine schwer zu überwindende Barriere zwischen den Nationen. Es scheint jedoch, daß zu einer psychohistorischen, bis heute bestehenden Kluft zwischen Deutschen und Polen nicht die Kriegsauswirkungen selbst, sondern der unterschiedliche Umgang mit diesem historischen Geschehen führten. Gemeint ist dabei das Ausbleiben einer nationalen Katharsis und Trauerarbeit in Deutschland auf der einen Seite und das fast traumatisierte Gedenken in Polen auf der anderen. Anstelle der von Alexander und Margarete Mitscherlich geforderten Trauerarbeit, herrschte in Deutschland eine Haltung der Ablehnung der nationalen Schuld und jeglicher politischer und moralischer Mitverantwortung für die Greueltaten der Nazidiktatur vor. Nicht einmal die protestantische Kirche wollte ihre Mitschuld für den Holocaust und den Massenmord an den Slaven bekennen. (…)

Mit den historischen Hypotheken des deutsch-polnischen Verhältnisses ist auch das Problem der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Gebieten verbunden. Dieses Thema war in Polen viele Jahre hindurch tabuisiert. Es ist notwendig, diese Problematik eingehend zu untersuchen und darzustellen. Es könnte aber die Verständigung zwischen den Polen und Deutschen gefährden, wenn die Vertreibung gleichartig wie Naziverbrechen behandelt würde, was in Deutschland leider oft vorkommt. Die Vertreibung kann, wie es Martin Broszat richtig konstatierte, „weder qualitativ noch in bezug auf den Ursachenzusammenhang mit der verderblichen nationalsozialistischen Rassenpolitik und ihren Folgen verrechnet werden.“

Die Aussöhnung der Deutschen und Polen wird nicht nur durch die Last der leidvollen Vergangenheit erschwert. Sehr stark wird sie durch die in beiden Ländern auftretende pauschalisierte Perzeptionsweise des Nachbarn gehemmt. Die Wahrnehmung der Polen in Deutschland und der Deutschen in Polen ist durch unterschiedliche Stereotype und Vorurteile bedingt. Die massenhafte Produktion antipolnischer und antideutscher Vorurteile geht im größten Teil auf das späte 19. Jahrhundert und die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurück. Einen großen Einfluß darauf hatte die Presse und Belletristik.

(…) Einer getrennten Analyse bedarf das Problem der Konsequenzen der Wiedervereinigung Deutschlands, einer ganz neuen sozial-politischen Situation in den deutsch-polnischen Beziehungen, für die Entwicklung und die Haltung der gesamten deutschen Bevölkerung, also auch der darin sich eingliedernden Einwohner der ehemaligen DDR, gegenüber Polen. Für die Aufarbeitung der verfehlten deutsch-polnischen Geschichte wird wahrscheinlich ein Generationen dauernder Heilungsprozess notwendig sein. (…) Von historischer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Vertrag vom 17. Juni 1991 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen der BRD und Polen, der seine Wurzeln im Warschauer Vertrag hat, aber im Gegensatz zu diesem Abkommen durch das vereinigte Deutschland unterzeichnet wurde. Man darf aber nicht vergessen, daß die Versöhnung der politischen oder ökonomischen Eliten nicht die Versöhnung der Nationen bedeutet.