MK:

Der Streit, ob Revolutionen Kreise bilden oder Spiralen. Oder sind sie Hyperbeln? Heben sie ab?

Alexander Kluge

Die große Französische Revolution ist eine konservative Bewegung, sagt Reinhart Kosseleck. Es geht um die Herstellung der „droits fondamentaux“ gegen die ursurpierten Rechte des Königs, der sich die Rechte der Parlamente, der Stände, der Landschaften unterworfen hat. Wenig später geht es um die Wiederherstellung der virtus, der Tugend.

Insgeheim soll die revolutionäre Bewegung die “Natur der Gesellschaft“ herstellen, die Natürlichkeit des Umgangs, der Eigenschaften, der Vermögen. Erst im Schwunge des Jahres („L‘ an 1de la liberté“) macht sich eine zweite Strömung bemerkbar: der Anbruch des neuen Zeitalters, der Elan so vieler Partizipanten, daß man die Freiheit selbst als Gelegenheit ergreift, die Maschinerie der Menschheit in Beschleunigung zu versetzen.

Bei Hobbes vollzieht die Revolution eine Kreisbewegung: von der Monarchie über den Bürgerkrieg zur Adelsherrschaft und weiter zur Diktatur der Gemeinen und von dort zurück zum Königtum. Der Staatstheoretiker sinnt auf Verminderung der Greuel, die diese Kreisbewegung verursachten: „circular motion“. Dies soll ohne Bürgerkrieg geschehen, dem Souverän anvertraut. Diderot schließt sich dem an, ja, eine jede Kassandra würde dies so tun. Er spricht 1780 davon, daß eine kommende Revolution in einer selbstgewählten Diktatur enden werde, aus der dann neue Kreise folgen würden. Dem gegenüber behauptet der realistischer Marx, daß eine revolutionäre Bewegung niemals zum ursprünglichen Punkt zurückkehren werde. Es hätten sich nämlich im Moment einer Umkehr des Impulses odereiner „Rückkehr“ alle Verhältnisse gewandelt.

Der Astronom Herschel beschreib die Revolutionen der Erde um sich selbst die der Erde um die Sonne und die des Sonnensystems(„in großer Revolution“) um das Zentrum der Galaxie (und vielleicht kreisen auch ganze Pulks an Milchstraßen um einen gemeinsamen Schwerpunkt). Für die Erde läßt sich behaupten, führte er aus, daß sie diese kreisende Bewegung nirgends verläßt und rein theoretisch zu einem Ausgangspunkt jeweils zurückkehren muss. In seiner Praxis aber durchläuft der Erdball eine Zone, die er verlassen hat, nie ein zweites Mal. Und er durchläuft sehr verschiedenartige Verdichtungen der Materie im Kosmos. Dunkelwolken, er und die Sonne geraten in die Nähe anderer Sterne. Ja, es ist anzunehmen, daß ein unsichtbarer Begleiter, brauner Zwerg, den Bewegungszyklus des Sonnensystems in großen Zeitabständen durch seine Nähe stört. Wie Zeus, so Herrschel, irritiert er die Kometenmassen in der Oortschen Wolke, von wo aus sie wie Blitze herabstoßen in die Nähe der Planeten und der Sonne.

Für ganz ausgeschlossen hielt Marx, der ja Darwins Werk verehrte und lebenslänglich Materialist blieb, sich also gegen romantische Verführungen verwehrte, daß sich Revolutionen von ihrem Boden erheben und hyperbolisch eine zweite Realität gründen könnten. In diesem Fall müsste, notierte er, („für Herschel“), die zweite Realität in der ersten bereits vorhanden sein. Das allerdings wollte er gern glauben: daß alles das, was sich für wirklich hielt, mehrteilig sei, quasi im Bauch einen Embryo trage, so wie es schon Heraklit gesagt habe. Dies aber wäre so wenig Hyperbel und Ende der Bodenhaftung wie die Geburt eines Menschen, der ja durch unsichtbare Fäden nicht nur mit der Mutter, sondern mit allen Vorfahren der Menschheit im Bunde sei, sozusagen um einen Regen, der aufsteigt wie der Morgennebel und nicht wie eine Wolke herniederfällt.

„Das Jahr 1990 freilegen. Remontage der Zeit.“, editiert von Jan Wenzel u.a.. Mit 32 Geschichten von Alexander Kluge. Seite 263/4, Spector Books, 2019