MK:

„Ohne Publikum ist ein Kunstwerk nie beendet.“

Digitales Programmheft "Fäden"
von Olivia Ebert

Olivia Ebert: Wir sprechen im April 2021, kurz vor der geplanten Premiere, die wegen des Lockdowns nicht stattfinden kann. Veranstaltungen und soziales Leben sind unterbrochen, während wir weiter proben, und es ist unglaublich schwer abzuschätzen, wie lange dieser Zustand anhalten wird. Wie hat sich diese besondere Zeiterfahrung auf die Arbeit an „Fäden“ ausgewirkt – eine Performance, die sich sehr konkret mit Zeit und Lebenszeit auseinandersetzt und deren Konzeption schon vor der Pandemie begann?

Ivana Müller: Ich denke, dass Zeit in allen Arbeiten für das Theater präsent ist. Was ich vielleicht tue und was wir oft in Stücken gemacht haben, ist, Zeit auf eine direktere oder bewusstere Art und Weise anzusprechen. Ohne die Pandemie hätten wir uns wahrscheinlich entschieden, den Lauf der Zeit und das Älterwerden aus verschiedenen Perspektiven der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu verfolgen. Aber nun war es am interessantesten, sich auf das „Jetzt“ zu konzentrieren. Denn wir befinden uns alle in diesem schwebenden Moment. Wir schweben in dieser Realität, die ungewiss ist. Ich denke, wir sind wie in einem Boot, das den Ozean überquert: mit guten und schlechten Tagen. Wir sind mit der Vorstellung unterwegs, dass wir nach dieser Erfahrung auf dem Meer wieder festen Boden unter den Füßen haben werden, dass wir ein Ufer erreichen werden. Aber im Moment ist es wirklich schwierig zu sagen, wo dieser feste Boden ist, und wir wissen nicht, wie dieser Ort sein wird. Wenn wir wieder an unseren Ausgangspunkt zurückkehren, werden wir dann etwas völlig anderes vorfinden? Was wird auf der anderen Seite der Erfahrung sein? Ich hatte das Gefühl, dass es am interessantesten und ehrlichsten ist, von hier aus zu sprechen und zu denken. Von einem Zustand, in dem wir uns in diesem Moment befinden und mit den Ressourcen, die wir jetzt haben. Die Idee für dieses Projekt war schon immer, mit dieser speziellen Gruppe zu arbeiten: Es ist ein Zusammentreffen von Menschen, die einerseits mehr an einem Ort, an einem Haus und in der Tradition von Text und Sprechtheater verwurzelt sind – und andererseits Menschen, die viel international reisen und arbeiten, die vor allem in ihrer Bewegung und im ständigen Fluss von wechselnden Orten verwurzelt sind. Diese Konstellation hat uns zu einer interessanten Begegnung geführt, die es uns ermöglichte, Überlegungen anzustellen, die möglicherweise andere Wege des Zusammenseins und der Zusammenarbeit vorschlagen.

Hat diese neue Konstellation auch neue Arbeitsweisen für Dich als Choreografin erfordert oder provoziert?

Ich denke, dass man jedes Mal, wenn man eine neue Arbeit macht, neue Dinge ausprobiert, anders arbeitet. Hier war es interessant, wie bestimmte Ideen aufeinandertreffen ­– darüber, was es bedeutet, aufzutreten, auf der Bühne zu stehen, wie man Texte mit einer ganz bestimmten körperlichen Verfasstheit verkörpern kann. All die Praktiken, die jede*r von uns im Laufe der Jahre entwickelt hat und unsere Erfahrungen, die wir gemacht haben. Die meisten aus der Gruppe sind sehr erfahren, sie sind künstlerisch länger tätig als ich. Es lag etwas sehr Großzügiges und Schönes in der Tatsache, dass sie nichts mehr beweisen müssen.

Für dieses Projekt schlug ich vor, mit einem ganz bestimmten Material zu arbeiten: dicken Wollfäden. Das Stück ist wie ein Gewebe, eine Strickarbeit und eine Textur, die aus bestimmten Überlegungen über die Idee der Zeit besteht, verwoben mit persönlichen Geschichten, Erfahrungen und Standpunkten. Wir sind von einem bestimmten physischen Zustand ausgegangen, der mit dem Material der Wolle verbunden ist: Welche Art von Geschichten können wir erzählen, wenn wir die Fäden auf- und abwickeln, wenn wir sie berühren, wenn wir von ihnen berührt werden? Es ist die dritte Produktion, die ich unter Verwendung von Fäden, symbolischen und konkreten, erarbeitet habe: In der ersten Arbeit, „Entre-Deux“ (2019), haben wir sehr feines Garn verwendet, um Texte zu sticken, die erscheinen und verschwinden. In „Forces of Nature“ (2021) haben wir eine Choreografie mit Bergsteigerseilen entwickelt, in der die Performer*innen mit den gespannten Seilen verbunden sind – was ihre Entscheidungsfindung, ihre Bewegungen und ihr kollektives Denken beeinflusst und ein Gefühl der gegenseitigen Abhängigkeit schafft. Und in „Fäden“ verwenden wir Wollfäden: Sie sind weich, und das Stück ist es gewissermaßen auch. Es ist nicht zugespitzt, es arbeitet nicht mit großer Spannung. Ich denke, dass es gerade jetzt sehr interessant oder sogar wichtig ist, etwas Weiches zu produzieren, etwas, bei dem wir uns entspannen und mit dem wir uns auf eine fast taktile Weise verbinden können. Die Intention der Arbeit ist also nicht, Spannung oder Dramatik zu erzeugen, sondern vielmehr Entspannung. Alle Knoten, die auf der Bühne im Umgang mit der Wolle entstehen, werden wieder aufgelöst. Ich sehe den Abend auch als einen immerwährenden Prozess des Entknotens und Loslassens.

Ein weiteres wichtiges Material in „Fäden“ ist der Text. Wie verhalten sich Choreografie und Text zueinander?

Häufig nutze ich Texte als ein Vehikel, das das Potenzial hat, Vorstellungsbilder zu kreieren, in Beziehung zu treten und neue Blickwinkel zu schaffen. Mein Umgang mit Texten ist sehr stark von meiner Praxis als Choreografin beeinflusst. Ich sehe sie als poetische, philosophische oder musikalische Strukturen; als Sprache, die mehr auf Poesie als auf der Psychologisierung von Charakteren beruht. In diesem Sinne lassen sie sich eigentlich nicht mit der Tradition von Theatertexten in Verbindung bringen. Die Texte enthalten die Erinnerung an die Arbeits- und Denkprozesse, die wir erlebt haben. Und sie funktionieren nur, wenn sie in einer bestimmten Situation oder unter bestimmten physischen Bedingungen verkörpert werden. Der Text ist wie ein Partner in einem Pas de deux, auch in Bezug auf Musikalität, Spannung und Rhythmus. Das Stück entwickelt sich in einer bestimmten Form des Geschichtenerzählens – aber mehr in der Art, wie Geschichten in einem Gedicht erzählt werden. Ich stelle mir alle meine Stücke als Umgebungen oder Landschaften vor, in denen all die verschiedenen Ebenen der Arbeit zusammenkommen. Und die Zuschauenden und Betrachtenden sind immer in diese Kontingenz einbezogen. Ohne Publikum sind Kunstwerke nie beendet.