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Von Ernst Toller
An Tessa.
Die Monate im Gefängnis zerfließen formlos, farblos …
„Ein jeder atmete mit seinem Licht
die kleine Luft in seiner Grube aus,
vergaß sein Alter und sein Angesicht
und lebte wie ein fensterloses Haus
und starb nicht mehr, als wär er lange tot.
Sie lasen selten; alles war verdorrt,
als wäre Frost in jedes Buch gekrochen,
und wie die Kutte hing von ihren Knochen,
so hing der Sinn herab von jedem Wort.
Sie redeten einander nicht mehr an,
wenn sie sich fühlten in den schwarzen Gängen,
sie ließen ihre langen Haare hängen,
und keiner wußte, ob sein Nachbarsmann
nicht stehend starb.“
Lies Rilkes Stundenbuch, lies es in stillen Stunden, wie Fromme eine Bibel lesen. –
Kennst Du die Stelle aus Nansens Buch, wo er erzählt, wie sein Schiff monatelang eingefroren lag? Wie die Menschen sich Tücher mit Augenschlitzen um den Kopf banden, um sich nicht mehr ansehen zu müssen?
Hier mögen nur noch wenige Menschen zueinander sprechen. Haß wütet zwischen den Gefangenen. Auch gleiche politische Anschauung überbrückt bei engem Zusammenleben nicht die soziale Kluft der Herkunft. Wem diese verdammenswerte Gesellschaftsordnung nicht die Möglichkeit gab, sich geistige Bildungstechnik zu erwerben, der haßt (sic!) den, der sie besitzt. Der Haß (sic!) gegen den Intellektuellen ist nicht mehr „Überlegungshaß” (sic!), ist reiner Triebhaß geworden.
Gehaßt (sic!) wird der, der mehr Pakete erhält, mehr Geld bekommt, mehr Kleidungsstücke besitzt, mehr Bücher hat, der sich Einkünfte durch seine Arbeit verschaffen kann, sofern für den andern diese Möglichkeit nicht besteht. (Es tut nichts, daß der Empfänger das Empfangene mit den anderen teilt.) Eine Quelle des Hasses ist die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Gruppen während der Revolutionszeit. Eine andere die verschiedenartige Stellungnahme zu den bekannten Moskauer 21 Bedingungen. Die Anhänger drinnen nehmen den Gegnern gegenüber die gleiche Haltung ein, die draußen in den Tageskämpfen beklagenswertes Ereignis wurde, und deren Wesen Euch aus Zeitungsberichten bekannt sein mag.
Die tiefste Quelle für die hemmungslosen Gefühlsausbrüche ist die Haftpsychose. Es ist grauenhaft, wie sie die Seelen verkrümmt und verwüstet.
Eine der widerwärtigsten Erscheinungen vergaß ich. Jede Revolution zieht Leute an, die mit den Ideen der Revolution nicht das Geringste zu tun haben, die aus Abenteuerlust, aus unklarer, nebuloser Stimmung, aus Freude an Bewegung, aus Sucht sich zu berauschen, aus Haltlosigkeit und aus vielen Motiven, deren „Schmutzigkeit“ ich hier nicht darstellen möchte, zur Revolution stoßen.
In den Gefängnissen werden diese Leute gefährlich. Im Kreise der Genossen ist ihnen nichts „radikal“ genug, und es ist schwer, gegen sie anzukämpfen, da naive, vertrauensselige Genossen ihnen sofort beispringen und sie unterstützen. Sie möchten am liebsten, daß an jedem Tag eine „Tat“ geschähe, sie verdächtigen den Mäßigenden des Verrats. Der Verwaltung gegenüber nehmen sie eine andere Stellung ein: unterwürfig, kriecherisch versichern sie, daß (sic!) nur ein unglückseliger, unbegreiflicher Zufall sie in diese Sippe verschlug. Sie sind bereit, über alle Vorkommnisse unter den Festungsgenossen Auskunft zu erteilen. Ja, wenn irgendeine, nach den Vorschriften nicht ganz erlaubte Handlung geschieht, wird sie von diesen Burschen sofort der Verwaltung, die nach meiner Meinung vor ihnen keine Hochachtung empfinden kann, verzerrt und vergröbert hinterbracht.
Draußen aber, nach der Entlassung? Mit wehenden Fahnen schwenken sie ins Lager der dunkelsten Reaktion. Mit entsprechender Pose, für die sich irgendein Blättchen bereitwillig zur Verfügung stellt. Einer erließ eine öffentliche Erklärung in der Augsburger Postzeitung: „Ich bin geheilt. In welcher Verirrung befand ich mich! So sehen die berühmten revolutionären Arbeiter, so die Herren Führer aus usw. Der Sozialismus, das Unglück der Völker …“ Ein anderer im Wendelsteiner Boten: „Lieber lasse ich mich von den Sozis Verräter heißen … Ich bin heute Antisemit. Ich sehe ein, daß der Deutsch-völkische Bund Deutschlands einzige Rettung ist …“
Der so ähnlich schrieb und hier 9 Monate eingesperrt war, ist jetzt Sekretär der Chiemgauwehr, verprügelt Sozialisten und ist reif, sich in wohlbekannten Heldenstückchen (Erschießung auf der Flucht) zu beweisen. Ich mußte (sic!) ihn einmal zurückhalten, als er bei irgendeiner Gelegenheit aufforderte, mit den Aufsehern kurzen Prozeß (sic!) zu machen und sich auf einen stürzen „wollte“.
–
Liest Du Zeitungen? Oder interessiert es Dich nicht, den Zerfleischungskampf in der USP zu verfolgen?
Ich kann Dir infolge einer neuen Zensurvorschrift nicht ausführlich darlegen, aus welchen sachlichen Gründen ich die 21 Bedingungen ablehne und sie für verhängnisvoll für die europäische Arbeiterbewegung halte.
Quelle: Toller, Ernst: An Tessa, Briefe aus dem Gefängnis, 1920, http://www.tolleredition.de/~tollerprojekt/brief/96.
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