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O-Ton Ernst Toller

O-Ton Ernst Toller

Lesen Sie hier Ausschnitte der Einleitung und des letzten Kapitels von „Eine Jugend in Deutschland“.

Eine Jugend in Deutschland

Ernst Toller

Nicht nur meine Jugend ist hier aufgezeichnet, sondern die Jugend einer Generation und ein Stück Zeitgeschichte dazu. Viele Wege ging diese Jugend, falschen Göttern folgte sie und falschen Führern, aber stets bemühte sie sich um Klärung und um die Gebote des Geistes.
Nicht Fehler und Schuld, nicht Versagen und Unzulänglichkeit sollten in diesem Buch beschönigt werden, eigene sowenig wie fremde. Um ehrlich zu sein, muß (sic!) man wissen. Um tapfer zu sein, muß (sic!) man verstehen. Um gerecht zu sein, darf man nicht vergessen. Wenn das Joch der Barbarei drückt, muß (sic!) man kämpfen und darf nicht schweigen. Wer in solcher Zeit schweigt, verrät seine menschliche Sendung.
Am Tag der Verbrennung meiner Bücher in Deutschland

Blick Heute
(…) Wer den Zusammenbruch von 1933 begreifen will, muß (sic!) die Ereignisse der Jahre 1918 und 1919 in Deutschland kennen, von denen ich hier erzähle.
Hatten die Menschen gelernt aus Opfern und Leiden, aus Niederbruch und Verhängnis, aus dem Triumph des Gegners und der Verzweiflung des Volkes, hatten sie Sinn und Mahnung und Verpflichtung jener Zeiten begriffen?
(…) Nein, in fünfzehn Jahren haben sie nichts gelernt, alles vergessen und nichts gelernt. Wieder haben sie versagt, wieder sind sie gestrandet, wurden gestäupt und geschunden.
Sie haben das Volk vertröstet von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr, bis es, müde der Vertröstungen, Trost in der Trostlosigkeit suchte.
Die Barbarei triumphiert, Nationalismus und Rassenhaß (sic!) und Staatsvergottung blenden die Augen, die Sinne, die Herzen.
Viele haben gewarnt, seit Jahren gewarnt. Daß unsere Stimmen verhallten, ist unsere Schuld, unserer größte Schuld.

Von falschen Heilanden erwartet das Volk Rettung, nicht von eigener Erkenntnis, eigener Arbeit, eigener Verantwortung. Es jubelt über die Fesseln, die es auf Geheiß der Diktatoren sich schmiedet, für ein Linsengericht von leerem Gepränge verkauft es seine Freiheit und opfert die Vernunft.
Denn das Volk ist müde der Vernunft, müde des Denkens und Nachdenkens, was hat denn, fragt es, die Vernunft geschaffen in den letzten Jahren, was halfen uns Einsichten und Erkenntnisse? Und es glaubt den Verächtern des Geistes, die lehren, daß die Vernunft den Willen lähme, die seelischen Wurzeln zersetze, das gesellschaftliche Fundament zerstöre, daß alle Not, soziale und private, ihr Werk sei.
Als ob die Vernunft je regiert hätte, als ob nicht gerade das unvernünftig planlose Deutschland, Europa in den Sturz getrieben hätte!
Überall der gleiche wahnwitzige Glaube, ein Mann, der Führer, der Cäsar, der Messias werde kommen und Wunder tun, er werde die Verantwortung für künftige Zeiten tragen, aller Leben meistern, die Angst bannen, das Elend tilgen, das neue Volk, das Reich voller Herrlichkeit schaffen, ja, kraft überirdischer Sendung, den alten schwachen Adam wandeln.
Überall der gleiche wahnwitzige Wunsch, den Schuldigen zu finden, der die Verantwortung trage für vergangene Zeiten, dem man das eigene Versagen, die eigenen Fehler, die eigenen Verbrechen aufbürden darf, ach, es ist das alte Opferlamm aus Urzeiten, nur daß heute statt Tieren Menschen zur Opferung bestimmt werden.
(…) Und Europa?
Wie ein kleiner Makler, der auf die Kurse der Abendbörse wartet, auf neuen Gewinn und neuen Profit, und ein Erdbeben begräbt ihn mitsamt seiner Börse, so verharrt Europa. Weil tausend Kriegsspekulanten an Granaten und Bomben, an Giftgasen und Pestbazillen Milliarden verdienen und diese Blutmilliarden nationale Werte heißen, schweigen die Völker.
Der Arzt weiß, daß im Menschen, den physische und seelische Krisen erschüttern und der nicht ein noch aus weiß, planlos verharrt, weglos umherirrt, Todeswünsche erwachen, die mächtiger und mächtiger werden, die ihn locken, sich besinnungslos zu verschleudern und dem Chaotischen zu verfallen.
An dieser schweren Krankheit leidet das alte Europa. Im Tornado des Krieges, der mit steigenden Rüstungsaktien drohend sich kündet, stürzt sich Europa in den Abgrund des Selbstmords.
So war alles umsonst, geistige Bemühung und menschliche Not, entsagende Arbeit der Edelsten und Opfer der Tapfersten, und uns bliebe nur der Weg ins Dunkel des tödlichen Schlafs?
Wo ist die Jugend Europas?
Sie, die erkannt hatte, daß die Gesetze der alten Welt zerbrochen sind, die ihren Verfall täglich und stündlich erlitt? Sie lebte und wußte (sic!) nicht wozu. Sie wollte arbeiten, und die Tore der Werkstätten blieben ihr verschlossen. Sie sehnte sich nach weisenden Zielen, nach der Erfüllung ihrer großen und kühnen Träume, man tröstete sie mit dem Rausch der Leere. Folgt sie wirklich den falschen Propheten, glaubt sie der Lüge und verachtet die Wahrheit? Wartet sie darauf, bis der Krieg die Städte vergast, die Länder verwüstet, die Menschen vergiftet, glaubt sie, dann erst käme ihre Zeit, ihre Tat, ihr Sieg? Sieht sie nicht, daß auf zertrümmertem Grund die neue Welt anders aussähe, als sie heute träumt?
(…) Wo seid ihr, meine Kameraden?
Ich sehe euch nicht, und doch weiß ich, ihr lebt.
Morgen werdet ihr Deutschland sein.

Quelle: Toller, Ernst: Eine Jugend in Deutschland, Einleitung, Blick heute, 1933.