MK:

Digitales Programmheft „Doping“

All the tired horses

– oder: Was ist das Doping der Leistungsgesellschaft?

Stefan Merki sitzt in einem edel eingerichteten Zimmer auf einem großen, dunkelgrünen Sessel. Links und rechts von ihm stehen jeweils Şafak Şengül und Vincent Redetzki. Alle drei tragen Anzüge und Hemden.
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Judith Buss

Willkommen auf der Nordsee-Insel Sylt, einem Hotspot für Promis und vermögende Deutsche. Hier führt der junge FDP-Politiker Lütje Wesel einen leidenschaftlichen Wahlkampf für die nächsten Kommunalwahlen. Er weiß, dass Politik ein Marathon ist, kein Sprint. Mit geübter Rhetorik schafft er es, in einem Atemzug die Schließung von öffentlichen Kliniken zu verteidigen, und die Schönheit der Küsten-Marathon-Strecke zu loben.

Dann bricht Wesel auf dem Höhepunkt des Wahlkampfs vor laufenden Kameras zusammen. Sein Mentor Ole Hagenfels-Jefsen-Bohn und dessen schwangere Tochter Jagoda, ebenfalls Politikerin, liefern ihn schnell in eine merkwürdig anmutende Privatklinik ein. Dort werden sie von Entbindungspflegerin Gesine und dem ehemaligen Chefarzt Robert alias Dr. Bob empfangen. Das Versprechen: Mit besonderen Heilmethoden und der richtigen Philosophie wird Lütje zum Wahlkampfabschluss rechtzeitig wieder gesund. Nur, wer steckt eigentlich wirklich hinter der Klinik? Wessen Interessen versucht der Sylter Ortsverband der FDP so verbissen durchzusetzen? Und auf wessen Schultern ist der Wohlstand, zu dem die Figuren im Laufe ihres Lebens gekommen sind, tatsächlich entstanden?

In der Szenenabfolge kreisen die Figuren vordergründig nur um ein Ziel: Den versehrten Körper von Lütje Wesel wieder funktionstüchtig zu machen. Von Minute zu Minute panischer werdend, ergreifen sie absurde Maßnahmen – immer mit den Gedanken an die nächste Pressekonferenz, immer die drohende Wahlkampfniederlage und die höhnischen Schlagzeilen der Lokalpresse vor Augen. Ihre Ideen sind so einfach wie historisch gewachsen: Ganz dem neoliberalen Freiheitsverständnis verpflichtet, sprechen die drei Parteigenossen ununterbrochen vom Menschen als ein sich in jedem Augenblick neu entscheidendes Individuum. Was Susan Sontag in ihren Essays „Krankheit als Metapher“ und „Aids und seine Metaphern“ bereits vor einigen Jahrzehnten mit Blick auf die Medizingeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts anhand der Krankheiten Tuberkulose, Krebs und Aids beschreibt, findet seine Fortsetzung in der neoliberalen Kakophonie von Ole, Jagoda und Lütje: Die Krankheit erscheint nicht als eine physische Versehrtheit, sondern als Folge einer persönlichen psychischen Schwäche, die mit Willen und Entscheidungsstärke besiegt werden könne. Wer den menschlichen Körper wie Ole als eine rein ökonomische Funktion begreift, kann Krankheit nur als Störung und sich selbst verschlimmernde Katastrophe wahrnehmen.

Die Abbildung zeigt zwei Graphen: der eine geht steil nach rechts oben, während der andere darunter in einer Kurve von rechts oben nach links unten geht.
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Zeichnung: Nora Haakh / gedankenstriche.net

Während die drei Parteigenossen zu den Highperformer*innen unserer Gesellschaft gehören, die sich keine Pause gönnen, ließe sich das Klinikpersonal zunächst als System-Aussteiger beschreiben. Dr. Bob und Entbindungspflegerin Gesine entwickeln je eigene Strategien gegen das von den anderen Figuren vertretene mechanistische und ökonomische Menschenbild. Die Energie für stoische Gelassenheit (Dr. Bob) und Widerstand (Gesine) schöpfen sie aus ihrem gemeinsamen Projekt, der Klinik, und aus ihrer Paarbeziehung. Dass diese aber gleichermaßen Quell von geradezu musterhaften Beziehungsstreitereien ist, ist kein Zufall. Denn Nora Abdel-Maksoud, die nach der umjubelten Umverteilungs-Komödie „Jeeps“ an die Münchner Kammerspiele zurückkehrt, fragt mit „Doping“ nicht zuletzt nach der unterschiedlichen Wertschätzung und Entlohnung von Arbeit im Neoliberalismus. Als Doping der Wirtschaftsleistung erweisen sich im Laufe des Abends nicht allein die individuellen Mittelchen, Supplements und Anti-Stress-Taktiken der Figuren, sondern auch die noch heute überwiegend von Frauen geleistete unbezahlte Sorge- und Reproduktionsarbeit.

Abdel-Maksoud referiert dabei sowohl auf die Grundsätze einer marktliberalen Politik, die hinter den Argumenten für Kürzungen von Sozialleistungen, Klinikschließungen und Privatisierungen von öffentlichen Einrichtungen stehen, als auch auf feministische Ideen von Silvia Federici („LOHN gegen HAUSARBEIT“, 1973) bis Emilia Roig („Das Ende der Ehe“, 2023). Dazu ergänzten Publikationen zum Umgang unserer Gesellschaft mit Krankheit, u.a. die erwähnten Essays von Susan Sontag und die Studie des US-amerikanischen Philosophen Drew Leder „The Distressed Body“ (2016) ihre Recherche.

Mit „Doping“ fragt Abdel-Maksoud, was noch kommen kann nach einer Welt der Highperformer*innen und unerbittlichen Leistungsträger*innen. Und zwischen Wahlkampfauftritten, Entspannungswettkämpfen und Schwangerschaftswochen scheinen die Figuren dabei stets eine Frage zu stellen, über allem sanft schwebend: Vielleicht ginge es doch, anders zu leben, anders zu lieben?

Olivia Ebert und Manuel Rechsteiner

Nächster Termin 28.6. UA Englische Übertitel Mülheimer Theatertage 2022
Jeeps
Ist Erben gerecht? • Eine Komödie in 3 Akten • Von Nora Abdel-Maksoud

Tiefer ins Thema eintauchen

In den folgenden Artikeln und Audiobeiträgen erhalten Sie Hinweise zu Recherche- und Inspirationsquellen für „Doping“.

Ein Feature zur Geschichte des Neoliberalismus.

Reinhören in der Deutschlandfunk-Audiothek

2023: Ökonomin Christine Rudolf beziffert den wirtschaftlichen Wert der unbezahlten Care-Arbeit in Deutschland auf 825 Milliarden Euro im Jahr.

Reinhören in der NDR-Audiothek

Susan Sontag plädiert für die Entdämonisierung schreckensvoller Krankheiten. Zwei einflussreiche Essays der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Publizistin.

Zum Buch

Eine Reportage über die Krankheit des Sängers Ren und sein Album „Sick Boi“.

Lesen Sie hier die SZ-Reportage

Die italienische Feministin Silvia Federici hat sich mit ihrem intellektuellen Einsatz für die Entlohnung von Haushalts- und Fürsorgetätigkeiten international einen Namen gemacht. Ihr Ziel ist ambitioniert: die Wiederverzauberung der Welt.

Reinhören in der Deutschlandfunk-Audiothek

„Zu sagen, dass wir Geld für Hausarbeit wollen, ist der erste Schritt, sie zu verweigern, weil diese Forderung nach Lohn unsere Arbeit sichtbar macht.“

Lesen Sie hier das Manifest