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Interview mit dem Autor Lothar Kittstein

Lothar Kittstein berichtet über den Schreibprozess, die Themen und die Figurenentwicklung

Interview: Theresa Böhm, Dramaturgiehospitantin

Was war deine/eure Inspiration für das Stück? Hast du einen persönlichen Bezug zu dem Thema?

Ich habe überhaupt keine Verwandten in der Landwirtschaft. Ich gehöre zu dem Großteil der Bevölkerung, der zwar schon irgendwie ahnt, dass das Gemüse nicht in Plastikpackungen wächst, aber selten wirklich über die Herkunft der Nahrung nachdenkt. Als Christoph Frick mich fragte, ob wir etwas über das Thema machen wollen, habe ich erstaunt bemerkt, wie wenig ich bisher über diese essenziellen Dinge, von denen das Überleben aller buchstäblich abhängt, nachgedacht habe. Es ist unfassbar, wie selbstverständlich wir es hinnehmen, dass Nahrung in Reih und Glied im Supermarkt zum Einkauf bereitsteht, ohne dass wir irgendeinen Kontakt oder Fachkenntnisse über die Entstehung haben, vor allem: ohne dass wir emotionale, alltagsbasierte Bindung daran haben. Wer sich mal Wimmelbilderbücher anschaut, wird sehen, wie perfide romantisiert die Darstellung der Bauernhöfe noch immer ist. Ich dachte mir also, da lohnt es sich zu graben: eine Grundvoraussetzung der gesellschaftlichen Reproduktion, die gesellschaftlich – bis auf wenige Krisenmomente wie die letzten Bauernproteste – fast komplett ausgeblendet wird. Mit Blick auf die kommenden weltweiten Krisen sollte uns das alle eigentlich ziemlich beunruhigen.

Wie lief deine Recherchearbeit ab?

Vor allem muss viel gelesen werden, ohne Lesen geht das nicht. Es gibt auch eine Menge toller Dokumentarfilme, in denen Landwirt*innen selbst zu Wort kommen. Besonders faszinierend fand ich aber, wie viele Menschen um mich herum in irgendeiner Form familiären Bezug zu dem Thema hatten. Im Rückblick ist es logisch: Vor nicht allzu langer Zeit war ein Großteil der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. Die Mechanisierung und die Abwanderung in die Städte sind noch nicht so lange her, natürlich gibt es bei viele Deutschen diese Verbindungen. Ich finde es bemerkenswert, wie wir uns trotzdem davon abgespalten haben. Ich habe festgestellt, dass man den Schleier nur bisschen lüften muss, um vielerlei Verbindungen zu finden. Da sagen dann auf einmal alle möglichen Leute, ach ja, mein Onkel oder mein Cousin hatte früher so einen Hof. Der zweite Satz ist dann meist: Den gibt es jetzt nicht mehr, der Hof ist verkauft oder verpachtet, oder ich weiß auch nicht, was daraus wurde…

Wie sind die Figuren entstanden?

Diese Frage finde ich immer schwierig zu beantworten. Wenn es gelingt, haben die Figuren ein eigenes Leben und eine Existenz-Berechtigung. Meistens fallen die Figuren vom Himmel bei der Suche nach einer Konstellation, die funktioniert. Es ist letztendlich die Suche nach einem Figuren-Geflecht. Figuren sind immer im Kontrast, im Austausch und letztlich in einer Struktur von Begehren. Wenn die Figur ein Begehren hat, hat sie eine Existenzberechtigung auf der Bühne. Eine Bühne ist ein Raum, auf der sich Körper entlang von Vektoren des Begehrens bewegen. Idealerweise ist ein Text nur das Ergebnis davon, ein fast selbstverständlicher Ausdruck, egal, wie künstlich oder realistisch er auf der Oberfläche wirkt. Und deshalb gleicht der Arbeitsprozess am Ende, rückblickend, einer Suche nach etwas, das eigentlich schon immer vorhanden war. Es ist also paradoxerweise eine Arbeit an der Gestaltung, die eigentlich mehr ein Findungs- und Überprüfungsprozess ist.

Was ist die Figur des Universums für dich?

Auch das Universum fiel irgendwie vom Himmel. Diese Zeitspanne von 200 Jahren, die wir schildern, sollte ja keine faktentreue Historien-Erzählung werden. Was war die Triebkraft und der Zusammenhalt von all dem? Eines Tages fing die Welt, die wir entwickelt haben, selbst an zu sprechen. Die Welt, die auch eine Energie, einen Rhythmus und eine Richtung hat. Ein Rhythmus aus Werden und Vergehen, wärmer und kälter werden, mehr Stress und weniger Stress. Diese Welt weiß alles über sich und kann doch nichts ändern. Die wollte eben auch reden und zur Figur werden. Dann hat uns diese Figur, das Universum, Spaß gemacht und ist geblieben. Dass das Universum auch eine Art Gottersatz ist, fiel mir erst hinterher auf. Die Religiosität ist ja in der Stadt fast völlig verschwunden und auf dem Land noch präsenter. Nicht weil Menschen unbedingt mehr glauben. Aber man kommt um die Tatsache, dass wir nicht Herren der Dinge sind, sondern dass wir abhängig sind von etwas, das größer ist als wir selbst, einfach nicht herum, wenn man täglich mit dem Wetter und dem Boden umgehen muss. Wir alle haben diese Abhängigkeit gründlich verdrängt.

Warum genau diese drei Zeitbilder?

Im 19. Jahrhundert wurde etwas ausgelöst, was neu war. Der Start der industriellen Revolution, auch in der Landwirtschaft, liegt historisch hier. Landwirtschaft wurde erstmals als Gewerbe begriffen, das man systematisch optimieren kann. Außerdem glaube ich, dass die Hungersnot, die 1816 durch die Tambora-Eruption ausgelöst wurde, ein deutsches oder sogar europäisches Urtrauma darstellt. Es ist eine Urszene des Verlassen-Seins, weil die gerade erst modernisierten staatlichen Strukturen so gründlich versagten. Der junge moderne Staat konnte seine Versprechen nicht halten. Es gab ja dann eine Auswanderungswelle, auch aus Bayern. Deshalb haben wir dieses Jahr als zwingenden Startpunkt empfunden.

1973 repräsentiert den Höhepunkt der Nachkriegsmoderne. Das, was im 19. Jahrhundert angelegt wurde, schien sich gerade voll zu entfalten. Und dann kam die Ölkrise als Wendepunkt, auf einmal war der Nachkriegsboom vorbei. Sofort zeigt sich die moderne Unfähigkeit, anders zu denken, wegzukommen von dem „höher, schneller, weiter“. Wie stattdessen „weniger“ gerecht verteilt werden kann, diese Frage stellt sich in der Perspektive der Moderne einfach nicht. Als in den 70ern die Expansionswelle bricht, weiß niemand wirklich einen anderen Rat, als immer weiterzumachen. Die Agrarpolitik leidet bis heute ja an diesem unaufgelösten Widerspruch. Die jüngsten Bauernproteste zeigen, bei aller dumpfen Dämlichkeit der Parolen, auch ein tiefes Leiden daran.

In der Gegenwart reproduziert sich der Widerspruch auf einer anderen Ebene. Auf einmal ist da die neue Hoffnung, durch eine neue Technik natürliche Grenzen jetzt endlich zu durchbrechen: Gentechnik, bei uns Fritzis Hirse. Eine Innovation, diesmal nicht in Gestalt großer Maschinen, sondern mikroskopisch klein, aber wieder derselbe Versuch: Hinwegspringen über die Grenzen der Natur. Erst war es Gott, dann der Verbrennungsmotor, jetzt ist es die Genschere, die retten soll. Es findet sich immer eine neue Instanz, und scheinbar wird alles immer moderner, und dennoch wirkt es bei näherem Hinsehen alles wie der immergleiche Kinderglaube an die Macht von Zauberei. Ich will das gar nicht negativ werten! Wir versuchen einfach, durch 200 Jahre zu verfolgen, wie sich diese unerschütterliche menschliche Hoffnung immer auf neue Art und Weise manifestiert. Darum umschlingen und durchdringen die drei Zeitbilder einander auch, antworten sich gegenseitig, stoßen sich voneinander ab und zeigen letztlich auch die unbändige, beharrliche Kraft menschlicher Selbstbehauptung.

Wie ist die Sprache entstanden? War es eine bewusste Entscheidung, keinen Dialekt zu verwenden?

Wir haben sehr früh die bewusste Entscheidung getroffen, keinen Dialekt zu verwenden. Ich komme nicht aus Bayern, alles andere wäre absurd gewesen. Wir wollten nicht naiv sozialrealistisch ein Milieu abbilden. Die Künstlichkeit in der Darstellung und der Sprache spiegelt letztlich die Künstlichkeit der Situation, in der die handelnden Personen gefangen sind. Indem die Sprache z.B. viel mit Wiederholungen operiert, erdet sie die Figuren auch in etwas, hält sie fest wie die Erde, die sie beackern müssen und von der sie letztlich aber auch beackert werden… Sie stehen in einer unentrinnbaren Abhängigkeit. So ist die Sprache in „Land“ für mich letztlich eine eigene Art von Dialekt.

Lothar Kittstein, geboren 1970 in Trier, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Hannover und Bonn. Mit dem dramatischen Schreiben begann er 2003. Im Juni 2005 wurde sein Stück „In einer mondhellen Winternacht“ zu den Autorentheatertagen des Thalia Theaters eingeladen, im September 2005 fand die Uraufführung von „Spargelzeit“ am Theater Osnabrück statt. Für die Kurzgeschichte „Norwegen“ bekam er den Würth-Literaturpreis 2006 verliehen. Gemeinsam mit dem Regisseur Bernhard Mikeska erarbeitet er seit 2009 Installationen, die mit den Wahrnehmungen der Theaterzuschauer*innen spielen und sie direkt mit Schein und Sein konfrontieren. Für Volker Lösch schrieb Lothar Kittstein die Ibsen-Überschreibung „Volksfeind for Future“. Gemeinsam mit Christoph Frick entstand 2021 die Arbeit „Jetzt!“ am Staatstheater Darmstadt.