MK:

Die Wahrheit des Ozeans

Werner Herzog über Fake News, Erinnerungen und andere rettende Fiktionen

Im Labyrinth der Erinnerungen frage ich mich oft, wie sehr sie im Fluss sind, was wann wichtig war und wie sich so viel verflüchtigt oder andere Grundfarben angenommen hat. Wie wahr sind unsere Erinnerungen? Die Frage nach der Wahrheit hat mich in all meinen Filmen beschäftigt. Heute stellt sie sich für alle mit größerer Dringlichkeit, weil wir im Internet Spuren von uns hinterlassen, die ein ganz eigenes Leben annehmen. Die Frage von Fake News hat sich weit in den Vordergrund geschoben, weil sie nie einen solchen Einfluss auf das politische Leben genommen haben. Fälschungen hat es aber gegeben, seit wir schriftliche Aufzeichnungen haben. Ein ägyptischer Pharao rühmt sich auf Reliefs seines großen Sieges über die Hetiter, aber wir besitzen den Text seines Friedensvertrages mit dem Feind, aus dem hervorgeht, dass die Schlacht unentschieden ausgegangen war. Wir haben falsche Neros, die nach dem Tod des römischen Kaisers auf einmal mit großem Gefolge in Nordgriechenland und Kleinasien einritten. Wir haben die Fassaden der Potemkinschen Dörfer, die die Zarin Katharina die Große bei ihrer Durchfahrt beeindrucken sollten. Die Liste hat kein Ende.

Von früh an war ich in meiner Arbeit mit Fakten konfrontiert. Man muss sie ernst nehmen, weil sie normative Kraft haben, aber rein faktenorientierte Filme zu machen, das hat mich nie interessiert. Die Wahrheit muss mit den Fakten nicht übereinstimmen. Das Telefonbuch von Manhattan wäre sonst das Buch der Biicher. Vier Millionen Einträge, alle faktisch korrekt, alle überprüfbar. Aber das sagt uns nichts über einen der Dutzende von James Millers darin. Seine Nummer und Anschrift sind korrekt. Aber warum weint er jede Nacht in sein Kissen? Erst die Poesie, erst die Erfindung der Dichter, kann eine tiefere Schicht, eine Art von Wahrheit sichtbar machen. Ich habe dafür den Begriff ekstatische Wahrheit geprägt. Das zu erläutern, würde ein ganzes eigenes Buch verlangen, ich mache deshalb hier nur ein paar wenige skizzenhafte Angaben. Über diese Frage habe ich aber bis heute das öffentliche Gefecht mit Vertretern des sogenannten Cinéma Vérité gesucht, die die Wahrheit für das gesamte Genre des Dokumentarfilms für sich beanspruchen. Als Autor eines Films müsse man gänzlich verschwinden, man müsse wie eine Fliege an der Wand sein. Dieser Glaube würde die Kameras in den Bankfilialen zum Idealfall des Filmschaffens erklären. Ich will keine Fliege sein, ich will eine Hornisse sein, die zusticht. Cinéma Vérité war eine Idee der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, seine heutigen Vertreter bezeichne ich nur als »Buchhalter der Wahrheit«. Das hat mir wütende Angriffe eingetragen. Meine Antwort an die Empörten war: Frohes neues Jahr, ihr Versager.

Der französische Schriftsteller André Gide hat einmal geschrieben: »lch verändere Fakten auf solche Weise, dass sie der Wahrheit mehr ähneln als der Realität.« Shakespeare sagte ganz ähnlich: »The most truthful poetry is the most feigning«, »Die wahrhaftigste Dichtung ist die, die am meisten vortäuscht«. Das hat mich lange beschäftigt. Das einfachste Beispiel ist die Statue der Pietà von Michelangelo in St. Peter in Rom. Das Gesicht von Jesus, vom Kreuz abgenommen, ist das Gesicht eines dreiunddreißigjährigen Mannes, aber das Gesicht seiner Mutter ist das Gesicht einer Siebzehnjährigen. Wollte Michelangelo uns belügen? Hatte er betrügerische Absichten? Wollte er Fake News in die Welt setzen? Er handelte als Künstler ganz selbstverständlich, um uns die tiefere Wahrheit der beiden Personen zu zeigen. Was Wahrheit ist, wissen wir ohnedies alle nicht, weder die Philosophen noch der Papst in Rom und nicht einmal die Mathematiker. Ich sehe Wahrheit nie als Fixstern weit am Horizont, sondern immer als eine Aktivität, eine Suche, den Versuch einer Annäherung.

(…)

Ich bin immer davon fasziniert, wie andere Menschen Wahrheit »wahr-nehmen«. Bei den Dreharbeiten zu Fitzcarraldo hatte die Gemeinschaft der lokalen Machiguengas tief im Urwald für ihre Teilnahme außer Bezahlung in Geld auch andere Gegenleistungen erbeten, einen permanenten medizinischen Außenposten etwa, ein Transportboot, aber auch unsere Unterstützung bei ihrem Bemühen, eine Grundbucheintragung, einen Titel auf ihr Land, auf ihr Gebiet zu bekommen. Zunächst stellten wir einen Landvermesser an, um eine Karte mit Grenzlinien zu erstellen, dann trafen wir mit zwei gewählten Vertretern der Comunidad Shivankoreni den peruanischen Präsidenten, was ein paar Jahre später tatsächlich zur Anerkennung ihres Anrechts auf ihr Land führte. Es gab damals dort in Lima einen Moment, der für mich zur »Wahrheit des Ozeans« wurde. Im Dorf der Machiguengas hatte es kontroversielle Ansichten darüber gegeben, ob es wirklich einen Ozean gab und ob der gesamte Ozean, falls es ihn gab, Salzwasser enthielt. Als wir mit ihnen unterwegs waren, wateten die beiden Machiguenga-Vertreter voll bekleidet weit vom Strand aus in die Wellen hinaus, bis ihnen das Wasser bis unter die Achseln ging, und schmeckten das Wasser überall um sich herum ab. Dann füllten sie eine Flasche mit Meerwasser und brachten sie sorgfältig verkorkt zurück nach Hause in den Urwald. Ihr Beweis war: Wenn an einer Stelle Salz im Meer war, dann war, wie bei einem großen Topf, auch alles Wasser im Meer gleichermaßen salzig.

(JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE)