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Meeresbeschimpfung

Der Schiffbrüchige, in einer Fabel des Äsop auf den Strand geworfen, erwacht aus dem ersten Schlaf der Erschöpfung und findet das Meer wieder ruhig. Da packt ihn die Wut und er beschimpft, was ihn zerbrach: mit schönem Antlitz locke die See den Menschen, um ihn zu verderben, wenn er ihr folge. Thalassa, in Gestalt eines Weibes: die See, erwidert dem Zornigen: Schimpf nicht auf mich, sondern auf die Winde, denn ich bin von Natur nicht anders als die Erde; doch jene fallen über mich her und wühlen mich zu wilden Wogen auf.

Wie so oft im Fabelwesen scheint die Moral von der Geschichte weit entfernt von dem, was man erwartet. Wo Unrecht geschieht, ist überliefert, solle man sich nicht an die halten, die es tun, wenn sie von anderen abhängig sind, die es ihnen befohlen haben. Ärgerlich, wenn es eine Moral sein sollte.

Die Fabel ist schön, aber nicht vollkommen. Sie enttäuscht, weil an den Winden hängen bleibt, daß die See sich mit der festen Erde gleichsetzen, die für den Griechen überzeugendste Berufung auf ihre Physis aussprechen kann. Die Fabel ist ein Fragment; die Winde, nun ihrerseits vom Schiffbrüchigen getadelt, hätten noch das Wort haben müssen. Etwa so: Die See ist nicht wie das Land. Wenn wir uns auf dieses stürzen, rührt es sich nicht. Dazu bedarf es des Erderschütterers. Wäre die See uns nicht gefügig, gäbe es keine Wogen, keine Schiffbrüche.

(Hans Blumenberg, DIE SORGE GEHT ÜBER DEN FLUSS)