MK:

„Der Fehdehandschuh ist hiermit geworfen“

Werner Herzogs Manifest: Die MINNESOTA DECLARATION

Einer der bei unabhängigen Filmemachern dieser Tage besonders geschätzten und zitierten Texte von Werner Herzog ist die sogenannte MINNESOTA DECLARATION, die der Künstler 1999 im Walker Art Center in Minnesota aus Anlass seines Dokumentarfilms „Lektionen in Finsternis“ verlesen hat.

  1. Kraft dieser Erklärung wird dem so genannten Cinema verité die verité, die Wahrheit, abgesprochen. Erreicht wird bloß eine oberflächliche Wahrheit: die Wahrheit der Buchhalter.
  2. Ein prominenter Vertreter des Cinema verité hat öffentlich erklärt, mit einer Kamera und aufrichtigem Bemühen finde jeder ohne weiteres die Wahrheit. Er ähnelt dem Nachtwächter am Obersten Gericht, der von zu viel kodifiziertem Recht und Verfahrensregeln wenig hält. „Mir persönlich“, sagt er, „würde ein einziges Gesetz reichen: der Schuft gehört hinter Gitter.“ Leider hat er zum Teil für den Großteil der meisten die meiste Zeit recht.
  3. Das Cinema verité verwechselt Faktum und Wahrheit und beackert nur ein Feld von Steinen. Und doch besitzt das Faktische mitunter eine so eigentümliche und bizarre Macht, dass die ihm innewohnende Wahrheit kaum glaublich scheint.
  4. Fakten schaffen Normen, aber die Wahrheit Erleuchtung.
  5. Im Film liegt die Wahrheit tiefer und es gibt so etwas wie poetische, ekstatische Wahrheit. Sie ist geheimnisvoll und schwer greifbar, man kommt ihr nur durch Dichtung, Erfindung, Stilisierung bei.
  6. Vertreter des Cinema verité gleichen Touristen, die ihre Photos in Ruinen des Faktischen machen.
  7. Tourismus ist Sünde, zu Fuß reisen Tugend.
  8. Jedes Frühjahr brechen reihenweise Menschen auf Motorschlitten durchs morsche Eis der Seen von Minnesota und ertrinken. Es wird der Ruf nach Präventivgesetzen laut. Der neue Gouverneur, Ex-Ringer und Bodyguard, hat darauf die einzig richtige Antwort: „Dummheit lässt sich gesetzlich nicht regeln.“
  9. Der Fehdehandschuh ist hiermit geworfen.
  10. Der Mond ist öde und dumm. Die Natur ruft und redet mit niemand, allerdings furzt gelegentlich ein Gletscher. Lauscht bloß nicht dem „Lied vom Leben“.
  11. Wir sollten froh sein, dass das Universum kein Lächeln kennt.
  12. Das Leben der Tiefsee muss höllisch sein. Eine grenzenlose, gnadenlose Hölle ständiger höchster Gefahr. So höllisch, dass einige Arten – darunter der Mensch – im Laufe der Evolution daraus hervor gekrochen sind und sich aufs Trockene einiger kleiner Kontinente gerettet haben, wo die Lektionen in Finsternis weitergehen.

Walker Art Center, Minnesota, am 30. April 1999
Werner Herzog