MK:

„Wie man mit dem Leiden eines geliebten Menschen umgeht“

Michael Haneke über Liebe (Amour) — im Gespräch mit Michel Cieutat und Philippe Rouyer

Angelehnt an den großen Klassiker Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? von François Truffaut haben die Filmkritiker Michel Cieutat und Philippe Royer den Regisseur Michael Haneke über einen längeren Zeitraum ausführlich interviewt und Gespräche zu jedem einzelnen seiner Filme geführt — angefangen von seinem ersten Fernsehspiel Und was kommt danach? (1974) bis hin zu Amour, für den Haneke in Cannes Goldene Palme gewann.

Sie haben bei der Entgegennahme der Palme [beim Festival in Cannes 2012] erklärt, Liebe sei auch „ein wenig die Illustration des Versprechens“, das Sie und [Ihre Frau] Susie sich gegeben haben, für den Fall, daß sich einer von Ihnen eines Tages in einer ähnlichen Situation befindet wie die Figur, die Emmanuelle Riva spielt. Hat Sie das dazu bewogen, diesen Film zu drehen?

Nein. Es gab zwei ganz andere Gründe: Einmal den konkreten Wunsch, mit Jean-Louis Trintignant zusammenzuarbeiten. Und dann den Stoff selbst. Der Selbstmord meiner Tante, die mich großgezogen hat, ist mir sehr nahegegangen. Das war der Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Das Hauptthema des Drehbuchs sind nicht Alter und Tod, sondern die Frage, wie man mit dem Leiden eines geliebten Menschen umgeht. Ein Jahr vor ihrem Tod hat meine Tante — da war sie schon zweiundneunzig — zum ersten Mal versucht, sich umzubringen, mit Schlaftabletten. Ich habe sie gerade noch rechtzeitig gefunden. Aber als sie wieder zu sich kam und mich neben dem Bett im Krankenhaus sah, waren ihre ersten Worte: „Warum tust du mir das an?“ Schon vorher hatte sie mich mal gebeten, ihr bei ihrem Selbstmord behilflich zu sein. Ich habe damals gesagt, das geht nicht. Mich würde das ins Gefängnis bringen, weil ich ihr Erbe bin. Vor allem aber hätte ich nicht die Kraft dazu. Sie hat dann mit dem zweiten Versuch gewartet, bis ich auf einem Festival war, und da hat es geklappt. […]

Liebe haben Sie als Kammerspiel gedreht. Man bleibt fast den ganzen Film über in der Wohnung des Paares.

Weil das schwieriger und interessanter ist. Außerdem wollte ich Krankenhaus und Behandlungen vermeiden. Dieser falsch verstandene Naturalismus gehört für meinen Geschmack eher ins Fernsehspiel. Mich interessieren die inneren Konflikte, die aus dem Leiden dessen entstehen, den man liebt. Die meisten alten Leute leben so, wie das schon Jacques Brel in seine herzzerreißenden Chanson Les Vieux erzählt hat. Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten, daß die meisten schon deshalb zusammen bleiben, weil sie einfach niemand anders mehr versteht. Das erlebt man im Film, wenn die Tochter, gespielt von Isabelle Huppert, mit gut gemeinten Ratschlägen kommt, die ziemlich nutzlos sind. Ich verurteile sie nicht. Sie fühlt sich verantwortlich für ihre Eltern, weiß aber nicht, was sie machen soll. Deshalb denkt sie nur über die beste medizinische Versorgung nach, womit den beiden aber nicht geholfen ist.

Alexandre, der junge Pianist, weiß ebenfalls nicht recht, was er angesichts der Auswirkungen des Schlaganfalls sagen soll.

Er hat nicht damit gerechnet, seine ehemalige Lehrerin halbseitig gelähmt im Rollstuhl vorzufinden und ist von der Situation überfordert. Er ist ziemlich durcheinander, als sie ihn bittet, ein Stück zu spielen, das sie ihm beigebracht hat, als er zwölf war. Er hat das Stück seit langem nicht mehr gespielt. Er verhält sich insgesamt eher ungeschickt. Das ist heute bei Jüngeren verständlich. Sie wissen nicht, wie sie mit alten Leuten umgehen sollen, weil sie nicht daran gewöhnt sind. Das war mal anders, als junge Leute noch unter einem Dach mit alten Leuten zusammenlebten und deren Probleme kannten. Heutzutage gibt es zwar mehr alte Leute, aber die leben isoliert für sich. […]

Man hört sogar die Figur der Emmanuelle Riva sagen: „Das Leben ist schön, das lange Leben!“ Diese Formulierung überrascht ein wenig in einem Michael-Haneke- Film. Aber das scheint zu der allmählichen Verwandlung zu gehören, die Ihr Kino seit Das weiße Band durchgemacht hat. Als ob Sie mit diesem breiter angelegten Film angefangen hätten, wenn nicht Momente des Glücks so doch Momente zu zeigen, in denen die Figuren die guten Seiten des Lebens genießen.

Ich hatte noch nie etwas dagegen, „schöne Momente“ zu zeigen. Aber das Mainstream- Kino hat damit derart übertrieben, daß man so was kaum filmen kann, ohne dabei in Kitsch abzugleiten. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, die Fähigkeit, Positives darzustellen, ohne in Kitsch abzugleiten, steigt mit den künstlerischen Möglichkeiten, über die man verfügt. Vielleicht erklärt das, warum ich mir in dieser Hinsicht heute etwas mehr Leichtigkeit erlaube. […]

Genauso wie Sie nie direkt Gewalt in Ihren Filmen zeigen, wird der Gesundheitszustand durch Ellipsen angedeutet. Wenn plötzlich ein Tropf neben dem Bett steht, zeigt das, wie sich das Befinden von Anne verschlechtert hat.

Ich wollte die Entwicklung der Krankheit anhand kleiner äußerer Veränderungen und nicht anhand von erklärenden Dialogen erzählen. In einem Kammerspiel, wie es dieser Film ist, kann man nicht mit einer Vielzahl von Figuren und Orten operieren wie in Das weiße Band. Beim Drehbuchschreiben ist es nicht immer einfach, an einem stets gleichbleibenden Ort zu zeigen, wie viel Zeit von Szene zu Szene vergeht. Ob sie am gleichen oder am nächsten Tag spielt oder zwei Wochen oder einen Monat später. Wir hatten die Fensterausblicke, die Änderungen der Requisiten und das Make-up. Die Handlung des Films spielt im Zeitraum eines Jahres.

Eine Qualität des Drehbuchs ist die Eleganz, mit der Sie die Zeichen einführen, die für das Fortschreiten der Krankheit stehen.

Die Schwierigkeit bestand darin, das anhand von Situationen und Gerätschaften zu erzählen und dabei im medizinischen Sinne realistisch zu bleiben. Zum Beispiel sieht man Anne am Anfang in einem Rollstuhl, den ihr Mann schieben muß. Dann sieht man, wie sie im Flur übt, einen elektrisch angetriebenen Rollstuhl zu bedienen, der ihr eine gewisse Unabhängigkeit verschafft. Im Zuge der Recherchen habe ich mich mit der Ausstattung vertraut gemacht, die alte Leute zum Überleben brauchen, wie zum Beispiel Nachttische, die mit zunehmender Krankheit größer werden, da sie mehr Medikamente fassen müssen und ähnliches. […]

Haben Sie eine Liste von Alltagsmomenten aufgestellt, die jemand durchlebt, der einen Schlaganfall erlitten hat, bevor Sie das Drehbuch geschrieben haben?

Ja. Aber es ging vor allem darum, die geistige Verfassung der Figuren herauszufinden, die jeweils die Situationen interessant macht. Man kann sich nicht auf die Darstellung der Alltagsverrichtungen beschränken, die jeder kennt oder sich vorstellen kann: Toilettengänge, Mahlzeiten, die üblichen natürlichen Bedürfnisse … Die physischen Probleme lösen stets emotionale Reaktionen aus, und die sollten im Zentrum stehen. […]

Sie legen Georges auch eigene Erinnerungen in den Mund, wie die aus dem Ferienlager.

Ja, das stimmt. Diese Erinnerung, die er seiner Frau erzählt, bevor er sie erstickt, die habe ich selbst erlebt. Wie auch die Geschichte mit dem Kinofilm, die er ihr in der Küche erzählt. Aber wenn man schreibt, nimmt man immer Erinnerungen an Ereignisse auf, die einem selbst passiert sind, Sachen, über die man nachgedacht hat. Sonst fällt man ins Allgemeine, will sagen, in Klischees zurück. Aber ich verspüre nie das Bedürfnis, Dinge aus meinem privaten Leben in meinen Filmen als solche kenntlich zu machen. Die in Liebe erzählte Geschichte ist nicht die meiner Eltern, auch wenn meine Mutter mehrfach versucht hat, sich umzubringen.

Das Thema Selbstmord taucht in ihren Filmen erstaunlich oft auf, hier in Form der Sterbehilfe.

[…] Natürlich formuliert der Film das Recht jedes Menschen, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Die Frau sagt ganz klar, sie will sich umbringen, schafft es aber nicht. Sein Versprechen, im Alltag für sie zu sorgen und seine Beteuerungen, daß es ihr wieder besser gehen wird, helfen ihr, wie immer in so einer Situation, überhaupt nicht. Aber genau das interessiert mich: Kann man diese Situation überhaupt meistern? Weiß er schon, wenn er das Zimmer betritt, daß er sie umbringen wird? Möglich, aber sicher ist das nicht. Der Zuschauer muß sich diese Fragen stellen und für sich beantworten.

Wieso haben Sie auch diese Szene als Plansequenz gedreht, als eine große Bewegung?

Wenn der Ehemann das Kopfkissen nimmt, ist das eine echte Liebesgeste. Er hat endlich eingewilligt in das, was sie sich wünscht … Das ist Ihre Interpretation!