MK:

„Was heißt es in unserer Gesellschaft, wenn man nicht mehr so funktionstüchtig ist, wie verlangt?“

Regisseurin Karin Henkel im Gespräch über „Liebe (Amour)“

Frau Henkel, Sie bringen bei den Salzburger Festspielen eine Bühnenadaption des Films Liebe von Michael Haneke auf die Bühne. Ist die Arbeit mit einem Drehbuch eine besondere Herausforderung?

Ja, das ist es auf jeden Fall. Ein Film hat viele Szenen und Schnittbilder, also ganz andere Möglichkeiten, mit vergehender Zeit umzugehen.

Im Drehbuch gibt es wenig Text. Haneke hat stille Szenen und langsame Bewegungen gefilmt. Zuerst habe ich also inhaltlich über die zentralen Themen nachgedacht. Das sind Alter, Krankheit und Tod, aber auch Pflege und die Einsamkeit. Und die Frage, was es in unserer Gesellschaft heißt, wenn man nicht mehr so funktionstüchtig ist, wie verlangt. Es wäre langweilig einfach den Film nachzustellen. Das ist nicht das, was eine Bühnenadaption verlangt.

Was verlangt sie dann?

Einen eigenen, kreativen Umgang mit dem Stück. Natürlich anhand der Geschichte und des Drehbuchs von Michael Haneke. Man muss andere Bilder und Übersetzungen finden. Und vielleicht auch andere Schwerpunkte setzen. Haneke hat übrigens — das hat mir seine Verlegerin erzählt — das Drehbuch bewusst so knappgehalten. Er wollte darstellen, dass ältere Leute, die schon lange zusammenleben, weniger reden. Oder einfach weniger Worte brauchen. Das ist also nicht nur ein stilistisches Mittel, sondern auch ein inhaltliches.

Wie kann es gelingen, das bildlich auf die Bühne zu bringen?

Ich will jetzt nicht alles verraten, aber wir bilden auf jeden Fall keine Wohnung ab. Der Film baut eine gewisse Hermetik auf. Die beiden alten Menschen sind wie in einem Kokon in ihrer Wohnung eingesperrt. Besser gesagt: Sie sperren sich selbst ein. Das stellen wir auf der Bühne anders da. Unser Raum verändert sich mit der Zeit. Er startet sehr clean — mit einem Todestunnel. Dieser Raum bricht immer mehr zusammen, wird schmutziger. Wie eine Metapher dafür, was Angst in einem Menschen auslöst, wenn das Leben, das man sonst kennt, zusammenbricht und man keinen festen Boden mehr unter den Füßen hat. Die Überforderung des Ehemannes mit der Pflege, aber auch damit, aushalten zu müssen, dass ein geliebter Mensch leidet, haben wir in den Mittelpunkt gestellt. So interpretiere ich den Film, aber das kann jeder auf seine Weise. Gerade beim Schluss.

Der wird ja vom Filmtitel bereits in eine gewisse Richtung gedrängt.

Genau. Wenn ich aber nur die Tat, unabhängig von der Geschichte sehen würde, und da der Titel „Liebe“ drübersteht, dann wäre ich schon sehr irritiert. Die Provokation kann gut sein. Der Vorgang selbst bleibt aber brutal. Auch wenn es sicher eine Liebestat ist. Ich glaube aber, Haneke hat das wirklich eins zu eins so gemeint, dass die Aktion des Mannes unter dem Titel „Liebe“ zu sehen ist. Denn die Frau bittet tatsächlich mehrmals um Hilfe. Zwar später auch in einem Zustand, in dem sie vielleicht gar nicht mehr explizit benennen kann, was ihr fehlt, was sie noch für Sehnsüchte und Wünsche hat, aber dennoch bittet sie immer wieder um Hilfe und möchte auf gar keinen Fall wieder zurück ins Krankenhaus. Die Interpretation für die Zuschauer könnte meiner Meinung nach aber durchaus offener gehalten werden. Sterbehilfe ist ohnehin ein so komplexes Thema, dass es zu einfach wäre, in Ja-Nein-Kategorien zu denken.

Die Figuren stehen im Konflikt: zwischen dem Bedürfnis zu helfen und der Überforderung. Zwischen dem Wunsch, selbstbestimmt zu leben, und der Sorge, eine Belastung zu sein. Reden wir genug über diese Themen?

Genug darüber reden kann man gar nicht. Vieles im Bereich der Pflege befindet sich in einem Missstand. Es gibt zu wenig Personal, das wird zudem noch viel zu schlecht bezahlt. Wir haben uns für das Stück von Pfleger·innen beraten lassen. Das ist nicht leistbar, das sagen alle, die sich da beruflich auskennen. Diesen Missstand können wir auf der Bühne nicht ausreichend beleuchten. Aber wir können ihn hoffentlich so prägnant vorkommen lassen, dass die Gedanken nachklingen werden. Es ist ein umfassendes Thema, das wahnsinnig viele Menschen begleitet. Auch ich habe Erfahrung damit. Wenn man das persönlich kennengelernt hat, brennt einem das Thema noch mehr auf der Seele.

Die Salzburger Festspiele stehen heuer unter dem Titel „Die Zeit ist aus den Fugen“. Auch bei Amour scheint mit zunehmender Zeit alles schwieriger zu werden.

Das „Aus-den-Fugen-Geraten“ versuchen wir sinnbildlich auf die Bühne zu bringen. Ein Terrain, das man kannte, kann sich rasch komplett verändern. Dann sitzt man plötzlich in einem Rollstuhl, der nicht wohnungsgerecht ist.

Gerät auch die Liebe mit dem Alter aus den Fugen?

Nein, das kann man so nicht sagen, denn die Liebe ist ja individuell. Ich glaube, dass so eine Situation immer ein Prüfstand für eine Beziehung ist. Das ist eine Situation, die schwieriger zu meistern ist als ein Alltag, der schnurrt und in dem alles läuft. Es ist schrecklich, damit umzugehen. Für den, der daran leidet, aber auch für den, der versucht, das Leiden zu erleichtern. Man kann viele Fehler machen. Das passiert auch dem Mann in dem Drehbuch. Er meint es sicher nur zum Besten. Aber man muss man sich fragen, was das Beste wirklich ist.

Diese Überforderung betrifft im Film nicht nur das Paar, sondern auch das weitere Umfeld der Familie.

Die Tochter und der Vater geraten ständig aneinander, weil jeder denkt, dass er es richtig machen kann. Der Kreis der Menschen, die einen in solchen Situationen begleiten, wird dabei immer kleiner. Im Film gibt es keine Freunde, die vorbeikommen oder Trost spenden. Das ist bedrückend. Wir sollten uns fragen, warum es so ist, dass viele alte Menschen hinter verschlossenen Türen leiden müssen.

Welche Rolle spielt dabei vielleicht auch die Scham darüber, gesellschaftlichen Normen von Gesundheit, Vitalität nicht mehr genügen zu können, welcher Druck wirkt da auf die Figuren?

Ich glaube, diese Scham, in der Gesellschaft nicht mehr zu funktionieren, ist sehr groß. Im Film wird das ohnehin so gezeigt, und wahrscheinlich kann man das generell so äußern, dass man sich im Zustand des Alterns und Krankseins, sozusagen als „beschädigtes“ Wesen nicht gerne zeigt, dass man doch lieber funktionieren möchte und dass man schon eine große Schamgrenze überwinden muss, um bei den alltäglichsten Dingen Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn man das nicht mehr alleine kann.

Sie haben die Rolle der erkrankten Frau nicht mit einer älteren Schauspielerin besetzt, sondern mit mehreren Darstellerinnen. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Der Film beginnt mit einer aufgebrochenen Tür. Als erstes sehen wir die Leiche der Frau. Ich fand diesen Blickwinkel spannend: Die Frau ist tot. Alles, was wir danach sehen, ist die Erinnerung des Mannes. Er ist schon alleine, die Frau existiert nur als Leerstelle, fast wie ein Gespenst. Die Überforderung des Mannes hat mich sehr beschäftigt. Um das auf der Bühne adäquat darzustellen, habe ich es sinnvoll empfunden, den Darsteller, in unserem Fall ist das André Jung, mit vielen Menschen zu konfrontieren, die Hilfe brauchen. So können wir deutlich zeigen, was für eine immense, unleistbare Arbeit das für einen älteren Mann ist. Im Film sehen wir das gelebte Leben, wir sehen die Angst. Das versuchen wir in anderen Bildern auf die Bühne zu stellen.