MK:

Spuren der Liebe in den Filmen von Michael Haneke

Von Georg Seeßlen

Von Michael Haneke hätte bislang wohl niemand behauptet, er mache „Liebesfilme“. Nicht einmal die abgekühlte, bürgerlichvernünftige Version des „Beziehungsdramas“ findet sich in seinen Filmen an zentraler Stelle, von anderen Formen der kinematographischen Paarbildung ganz zu schweigen. Stattdessen eher: emotionale Verkümmerung, innere „Vergletscherung“. Der Analphabetismus der Gefühle. Das Gefängnis- und Unterdrückungssystem der bürgerlichen Kleinfamilie. Der Aus- und Einbruch von Gewalt. Der Schmerz der Abhängigkeit. Und die vergebliche Frage nach der Schuldfähigkeit der sozial und medial reduzierten Menschen. Hanekes Kino der Genauigkeit, so scheint es, ist für ein so vages und flüchtiges Gefühl wie die Liebe nicht geschaffen. Und doch. Nichts ist so deutlich spürbar wie das Abwesende. Womit soll und kann der Mensch leben ohne die Hilfe der Götter? Was nützen Recht und Ordnung, Verantwortung und Freiheit, Reichtum und Kultur, wenn es die Liebe nicht gibt? Dass die Liebe in der Welt der Haneke-Filme so fern bleibt, heißt nicht, dass die Menschen darin sie nicht ersehnen. Wir erkennen, wie sie sie verloren haben, und wir ahnen, in ihrem Leiden und in ihrem Zorn, was ihnen fehlt. Im Kino des Michael Haneke tritt die Liebe in ihrer Abwesenheit so deutlich hervor, dass jede Geste, jeder Blick, jedes Wort von ihr spricht.

Die melodramatische Grundgleichung scheint ansonsten einfach: Je größer das Bedürfnis eines Menschen nach Liebe ist, desto stärker ist das zerstörerische Potential, das er entfaltet. Die Lösung im emotionalen Mainstream ist: Bescheidenheit. Die Lösung des Melodramatikers hingegen kann nur in der Gewalt liegen. Die Lösung des Wohlfühlkinos ist das kleine Wunder. Die Lösung des autobiographischen Künstlers lautet Entblößung. Die Lösung im transzendentalen Kino ist die Gnade. Die Lösung des mythischen Kinos ist das Opfer. So einfach ist es gewiss nicht in Michael Hanekes Filmen, denn die Liebe ist dort nicht bloß ein Empfinden, sondern viele Empfindungen durcheinander.

Wenn man von der Liebe im Film spricht, dann geht es nicht nur um die Liebe zwischen den Protagonisten, sondern auch um die Liebe zwischen dem Autor und seinen Figuren sowie um die Liebe des Zuschauers zu den Projektionen auf der Leinwand. Mir scheint, dass man Michael Hanekes Filme, noch ganz vor jeder „Interpretation“, am besten versteht, wenn man sich ihnen durch die Liebe des Autors und Regisseurs zu seinen Figuren nähert. Die Kamera bei Michael Haneke ist distanziert und unnachgiebig, aber sie ist kein kaltes, kein „neutrales“ Instrument (wie etwa bei Regisseuren wie Peter Greenaway). Durch diesen Blick der Trotzallem- Menschenliebe ist der Zuschauer in der Lage, nach dem eigenen Mit-Leiden zu fragen.

Diese Frage kann man zunächst sehr technisch beantworten: Man ist diesen Menschen auf der Leinwand sehr nahe, schon deswegen, weil sie sich, so weltenweit von der gewöhnlichen Dramaturgie des „Problemfilms“ entfernt, nicht erklären, sondern weil sie sich verhalten. Michael Haneke sagt das deutlich, wenn er seinen Schauspielern stets erklärt, er selber wisse auch nicht mehr über seine Figuren als das, was im Drehbuch steht. Menschen, denen wir sehr nahekommen und die uns zugleich nicht vollständig erklärt sind, fordern eine emotionale Anteil nahme; das ist im richtigen Leben nicht anders. Ob aus dieser emotionalen Spannung „Liebe“ wird oder „Freundschaft“ oder auch eine herzhafte Abneigung, vielleicht sogar Hass, das hängt von weiteren Faktoren ab. Ohne diese Spannung kann jedenfalls nichts entstehen.

Ist aber Liebe möglich ohne Verletzung? In der antiken Mythologie war es nicht umsonst ein Pfeil, der einen treffen musste, und ein Pfeil hinterlässt nun mal eine Wunde, so niedlich sich die Neuzeit den Amor dann auch machen wollte. Nehmen wir noch einmal den Umweg über die Kunst. „Wenn man nicht verletzt wäre, würde man sich nicht mit Kunst befassen“, sagt Michael Haneke. Und wenn nun Kunst nichts anderes wäre als eine Form der Liebe, oder die Liebe nichts anderes als eine Form der Kunst? So also entsteht die zweite Spannung nach jener zwischen Nähe und Verstehen, die Spannung zwischen Verletzung und Liebe. Wer sich den Verletzungen der Menschen nähert, nähert sich auch der Liebe und umgekehrt.

Die Liebe ist in Hanekes Welt demnach nicht abwesend, wie es die Götter sein mögen, sondern sie ist vertrieben, geopfert, verbannt, unter Schuld begraben. Anwesend ist die Liebe in Michael Hanekes Filmen jedenfalls nie in der Sprache. Dafür aber in Gesten, in Entscheidungen und nicht zuletzt in der Musik. „Die schönste Kommunikation“, so Haneke, „ist das gemeinsame Musizieren. Das ist eine Form des gemeinsamen Atmens und unwahrscheinlich beglückend. Gemeinsames Musizieren ist schöner als jedes Gespräch, weil es auf eine nonverbale, nicht begriffliche Weise stattfindet.“ Dass der Verlust in vielen Haneke-Filmen eine größere Rolle spielt als ein etwaiger Gewinn, dass wir uns in einer Welt befinden, in der die mildernden Umstände abhandenkommen, das ist dem Filmemacher durchaus bewusst. Die Radikalität dieser negativen Bestandsaufnahme ist ein direkter Reflex auf die unermüdliche Arbeit der Medien- und Unterhaltungsindustrie an den die Umstände mildernden Bildern. Hanekes Plots sind zuerst einmal damit beschäftigt, die Notausgänge zu blockieren, die wohlfeilen Fluchtmöglichkeiten zu verbauen. Zu den im Kino gebräuchlichen emotionalen Fluchtwegen gehören neben den Schilderungen der mildernden Umstände auch die einfachen Distanzierungsmechanismen, die man im Alltagsleben anwendet: das Rationalisieren, Psychologisieren und Moralisieren. Hanekes Filme sind moralische Filme, keine moralisierenden! Sie reichen tief in die Psyche, aber sie psychologisieren nicht. Und sie appellieren (auch) an die Vernunft, ohne zu rationalisieren. Michael Haneke, sehr nahe an Robert Bresson etwa, gehört zu jenen Filmemachern, die das Erbe des bürgerlichen Trauerspiels angenommen haben, ohne freilich dessen verlorene Beziehungen zur Tragödie ganz aufzugeben. So kommen die beiden Extreme zueinander: der von den Göttern verlassene Mensch und das an sich selbst scheiternde bürgerliche Subjekt.

Ebendiese Frage, ob es sich um von allen Göttern verlassene Menschen oder um an sich selbst und ihresgleichen scheiternde bürgerliche Subjekte handelt, bleibt in Hanekes Filmen offen. Daher bleibt auch die Frage nach der Liebe in zweifacher Hinsicht offen. Und in der Liebe als Endstück eines bürgerlichen Trauerspiels, in Liebe, kommt das nur umso deutlicher zum Vorschein. Tut der Mensch, möglicherweise gerade wenn er liebt, das, was ihn von den Göttern am weitesten entfernt, weil er als Subjekt scheitert, oder verhält es sich genau umgekehrt? Beides ist denkbar, aber nicht beides gleichzeitig.

Zweifellos ist dieser Weg zum Tode von Michael Haneke mit einer Zärtlichkeit und einem Respekt beobachtet, der uns gleichsam Trost in der Form gibt: Dieser Blick widerspricht der „Bagatelle“, der Bagatellisierung des Sterbens (in Liebe, trotz der Liebe, durch die Liebe oder auch in ihrer Abwesenheit). Eine Bagatelle achtsam hören ist wie einen Film genau sehen. Wir sehen zwei Menschen, die von allen Göttern verlassen wurden und die als Subjekte fundamental scheitern. Weder von ihren Mitmenschen noch von „der Gesellschaft“ ist Hilfe und Trost zu erwarten. Ein Weg muss „bis zum bitteren Ende“ hin gegangen werden. Und es war ein richtiges Leben. Was kann Liebe anderes sein als die Akzeptanz der Sterblichkeit, die Fähigkeit zur Trauer? Ebendies ist das Trauerspiel — von der Liebe, die keine Lösung ist, sondern alles, was wir haben.

„Interpretation“, hat Susan Sontag gesagt, „ist die Rache des Intellektuellen an der Kunst.“ Das mag sein, des Öfteren. Doch oft genug auch ist Interpretation nichts anderes als eine etwas verdrehte Liebeserklärung des Intellektuellen an die Kunst.

Georg Seeßlen, geboren 1948, studierte Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie in München. Er gilt als einer der renommiertesten Film- und Kulturkritiker und schreibt u.a. für Die Zeit, die Frankfurter Rundschau, taz, epd-Film und Freitag. Er war Dozent an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland und veröffentlichte zahlreiche Bücher zum phantastischen und komischen Film, zu Krimi und Thriller sowie Biografien u.a. über Stephen Spielberg. Daneben gab er vielbeachtete Materialbände etwa über Alfred Hitchcock, Joel & Ethan Coen und Quentin Tarantino heraus.