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Digitales Programmheft "Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst"

Früh aufstehen, schuften ohne Essen und ohne Lohn, müde zur Schule, die Windeln für die Brüder waschen, putzen, Leberknödelteig machen, Käsekuchen backen, und immer wieder Schläge. Schläge mit dem Ochsenziemer, Schläge mit dem Stock, Schläge, auf die man immer erst stundenlang warten muss. Warten erzieht, zumal auf die Strafen warten. Lena Christs Kindheit und Jugend fand im Wirtshaus in München statt. „Geliebt hat mich meine Mutter nie“, formuliert sie ihre Pein.

Die Schauspielerin Annette Paulmann ist tief eingetaucht in diesen Kosmos himmelschreiender Ungerechtigkeit, den sich Lena Christ mit ihrem ersten Roman „Erinnerungen einer Überflüssigen“ von der Seele schrieb. Annette Paulmann hat eine zweite Kindheit aufgerufen, 70 Jahre später, die in den 60er Jahren in einer inzwischen ganz anderen Welt stattfand und die trotzdem viele Parallelen aufweist. Paulmann stellt Lena Christs Dialektdichtung ihre eigenen Texte gegenüber, stellt Verbindungen her, lässt den selbstgestrickten Pullover, die Zwergenhütte, den Käsekuchen sprechen. Es geht hier zwei Mal um das pure Überleben, und das ist alles andere als ausgemacht. Lena Christ hat nicht nur über Selbstmord nachgedacht, sie hat es mehrfach versucht und ihrem Leben schließlich ein Ende gesetzt. Vorher gab es Krankheiten, Gewerbeunzucht, Gefängnis, das „Trockenwohnen“. Die Pein des zweiten Mädchens ist – neben der körperlichen Züchtigung – für völlig „unbrauchbar“ gehalten zu werden.

Annette Paulmanns Theaterabend erzählt nicht nur von systematischer Gewalt, sondern auch von Liebe. Beide Mädchen kommen nicht los von der Liebe zur gewalttätigen Mutter, beide finden schließlich einen Ausweg. Beide erschaffen einen Raum in ihrer jeweils sehr eigenen, kraftvollen Fantasie. Lena Christ wird Schriftstellerin, schlägt über die Stränge. Irgendwann, das erzählt dieser Abend, ist das Maß voll! Geholfen haben diese Mädchen sich selbst, und dafür braucht es irgendwann Wut. Und das Loslassen. In einer dichten Collage aus Erinnerungen und Lichtbildern nähert sich die Schauspielerin Annette Paulmann zwei exemplarischen Biografien, die etwas über das Klima einer ganzen Gesellschaft aussagen. Warum bloß haben alle weggeschaut?

Viola Hasselberg

Hier können Sie ein Gespräch mit der Regisseurin und Schauspielerin von Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst Annette Paulmann lesen. Sie spricht über die Anfänge der Auseinandersetzung mit Lena Christ, Liebe trotz Gewalt, über Mütter und den Prozess, als Schauspielerin Regie zu führen. Das Gespräch führte die Dramaturgin Viola Hasselberg.

Porträt von Lena Christ

Foto: Monacensia

FemBio schreibt Biografien aus einem feministischen Blickwinkel über das Leben und die Erfahrungen von Frauen, diese sind ein wichtiger Beitrag für feministische Geschichtsschreibung.

Lesen Sie hier eine ausführliche Biografie von Lena Christ!

Diese Biografie von Lena Christ wurde von der Monacensia publiziert, in der auch ihr Nachlass verwaltet wird.

Lena Christ, die als „außereheliches“ Kind geboren wurde, schrieb sich in ihrem Debütroman 1912 ihre schweren Kindheits- und Jugenderlebnisse von der Seele. Der Erfolg blieb zunächst aus, das Buch wurde aber von der Kritik gelobt.

Lesen Sie hier ausgewählte Originalpassagen, die auch für Annette Paulmanns Inszenierung relevant sind.

Auf einem Teller liegt ein Stück Käsekuchen. Daneben liegt eine Kuchengabel.

Dieser Käsekuchen ist wichtig für ihre Inszenierung. Zum Nachbacken empfohlen!