MK:

Digitales Programmheft "Im Menschen muss alles herrlich sein"

SOLLEN SIE AUF EINEM SONNIGEN PLANETEN WACHSEN, UNSER GLÜCK, UNSERE FREUDE, UNSERE KINDER.

„Ein gutes Gedächtnis macht einsam.“

Sasha Marianna Salzmann erzählt von Müttern und Töchtern und Großmüttern – und ebenso von den Vätern – in Umbruchzeiten. Manchmal können wir diese erst später verstehen, wie zum Beispiel den Zusammenbruch der Sowjetunion und die hoffnungsvollen Neunzigerjahre, die von vielen Osteuropäer*innen allerdings die „Fleischwolfzeit“ genannt werden. Die Inszenierung führt uns ins Herz der Umbruchzeit der 90er Jahre und weiter zu der Frage, ob wir heute nicht wieder eine Zeitenwende erleben? Welche Spuren der Geschichte tragen wir in unseren Körpern? Wieso wiederholen wir Verhaltensmuster, deren Ursprung wir oft nicht mal kennen? Wieso scheint sich die Geschichte des Krieges und der Flucht immer neu zu wiederholen?

Zwei heute 50-jährige Freundinnen, Lena (Wiebke Puls) und Tatjana (Johanna Eiworth), stehen im Zentrum der Erzählung. Lenas unbeschützte Kindheit findet in den sowjetischen 70ern statt, widerwillig erlernt sie das Funktionieren im System. „Erwachsene sind Monster“, aber muss Lena mitspielen. Sie übergibt das Bestechungsgeld der Eltern an eine dubiose Ärztin, um ihre kranke Mutter zu retten. In den 90ern wird sie selbst Ärztin, um der Mutter zu helfen, aber da ist diese Mutter bereits gestorben.

Tatjana startet ihre „Karriere“ in einem Schnapsladen in der Provinzstadt Kriwoj Rog, nachdem ihre Idee, Tänzerin zu werden bei einer Reise nach Moskau gescheitert ist, noch bevor sie ihr Talent zeigen konnte. Beide Frauen passen sich an, fügen sich den Umständen. Beide werden ungeplant schwanger, bei beiden schnappt die Falle zu, denn die Väter sind keine Lebenspartner, sondern verschwinden. Beide Frauen spült es um die Nullerjahre nach Deutschland, wo das Leben noch einmal neu beginnen soll. Beide kriegen Töchter und laufen sich in der Emigration in die Arme, um zwangsläufig Freundinnen zu sein.

Edi (Edith Saldanha), Lenas Tochter, versucht, ihre Geschichte zu verstehen, will Journalistin werden, alles rauskriegen, den „Dreck“ benennen und ausbrechen. Am besten weit weg! Nina (Maren Solty), Tatjanas Tochter, kann es mit niemandem zusammen aushalten und lebt zurückgezogen in ihrer eigenen Welt. Mütter und Töchter sind bei Salzmann aneinander gekettet und schauen doch krampfhaft aneinander vorbei. Sie können sich nicht verstehen, leben auf verschiedenen Planeten und lieben einander trotzdem auf schmerzhafte Weise.

Voller Empathie, aber ohne jede Verklärung verwebt Sasha Marianna Salzmann die Geschichten von Menschen, denen Umbruchzeiten ihre Biografien diktieren, erzählt von nostalgischen und fatalen Lebenslügen und von dem Ringen um Neuanfänge. In Sashas Text hören wir die Sätze, die sich Menschen nicht gesagt haben, weil sie sich nicht trauten oder es einfach nicht vermochten. Wir hören die Geschichten der Großmutter vom „großen Hunger“, die nicht vor die Hunde gehen will, nachdem sie das alles überlebt hat. Wir lernen den charmanten Tschetschenen Edil kennen, der von Lena nicht als „wildes Tier“ bezeichnet werden will, und den sie nicht festhalten kann, obwohl sie das erste Mal liebt. Wir treffen Aljona, die uns im Pionierlager „Kleiner Adler“ erklärt, dass sie einfach „nichts“ werden will, weil sie doch schon „genug“ ist - und die einfach in der Zwangspsychiatrie verschwindet.

Der erste Teil der Inszenierung von Jan Bosse erzählt in vielen Puzzlestücken die Geschichten von Lena und Tatjana von den 90ern über ihre Emigration nach Deutschland bis ungefähr 2017. Der zweite Teil besteht aus einer einzigen fulminanten Szene: Lenas großer Party anlässlich ihres 50. Geburtstages im jüdischen Gemeindezentrum Jena Paradies. Edi, ihre Tochter, ist schließlich doch gekommen und hat sich vorgenommen, „wirkliche Gespräche“ zu führen. Als immer mehr Abbruchkanten sichtbar werden, verlässt sie die Party und stattet Nina, die gar nicht erst erschienen ist, einen Besuch ab.

Nach „Effingers“ zeigt der Regisseur Jan Bosse erneut einen epischen Theaterabend, eine musikalische Theaterzeitreise mit dem Ensemble und der Musikerin Carolina Bigge als Liveband auf der Bühne.

Viola Hasselberg

Porträt von Sasha Marianna Salzmann

Foto: Dirk Skiba

In den 1980er Jahren wird Sasha Marianna Salzmann in der Sowjetunion geboren. Salzmann fragt sich, was es bedeutet, in einem Land zu leben, in dem so viel Erlebtes ausgeklammert, versteckt und vergraben wird und tief unter der Erde liegt.

Lesen Sie hier „Der Große Hunger und das lange Schweigen“!

Sasha Marianna Salzmann schreibt in dem Text „Keine Gedichte über Krieg“ über die Unmöglichkeit und gleichzeitige Notwendigkeit im Krieg zu schreiben. Ein starker Text aus dem letzten Jahr, den Salzmann anlässlich des Festivals „Mit Sprache handeln“ geschrieben hat.

Der „Homo Sovieticus“ ist ein umstrittener Begriff für die Selbstdarstellung des ersten sozialistischen Staates. Sasha Mariana Salzmann lässt ihre Figuren auch vom „Sovok“ sprechen, von Menschen der ehemaligen Sowjetunion, die jetzt auf einem Kehrblech als „Abfall der Geschichte“ zusammengekehrt werden.

Erfahren Sie hier mehr über den Begriff des „Homo Sovieticus“ in einer Definition des Historikers Klaus Gestwa aus dem Jahr 2013!

Diese sechsteilige Dokumentation aus dem Archivmaterial der BBC hat die Proben zu „Im Menschen muss alles herrlich sein“ sehr inspiriert. Die Mitschnitte aus dem Leben in der Sowjetunion zwischen 1985 und 1999 zeigen ikonografische Bilder zwischen Freiheit und neuer Gewalt. Absolut sehenswert!

Nächster Termin 18.6. UA Deutsche Übertitel Englische Übertitel Eingeladen zum Festival „Willkommen Anderswo“ Bautzen
Ха́та – Zuhause
Was kommt nach dem Hass? • Eine musikalisch-tänzerische Gratwanderung • Mit Ukrainer*innen (Teil I) und Russ*innen (Teil II) aus...

Eine musikalisch-tänzerische Gratwanderung mit Ukrainer*innen (Teil I) und Russ*innen (Teil II)

Wo „Im Menschen muss alles herrlich sein“ aufhört, setzt unsere dokumentarische Inszenierung „Ха́та – Zuhause“ ein, die ab 13.10. im Schauspielhaus im Repertoire der Kammerspiele zu sehen ist. In zwei streng voneinander getrennten Teilen äußern sich Ukrainer*innen und Russ*innen zu dem Abgrund des Krieges, wie sie auf ihre Zukunft und aufeinander blicken, warum sie in München leben. Sensibel inszeniert von der litauischen Regisseurin Kamilė Gudmonaitė.