MK:

Programmheft „Flüstern in stehenden Zügen“

Nach dem Stück von Clemens J. Setz

Harald Wolff

Einen „literarischen Extremisten im besten Sinne“ nennt die Jury des Heinrich-von-Kleist-Preises den Autoren Clemens J. Setz. Die österreichische Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Daniela Strigl begründet ihre Wahl des Preisträgers 2020 so: Er sei ein „Erzähler und Dramatiker, der seine Leser mit anarchischer Fantasie und maliziöser Fröhlichkeit stets aufs Neue verblüfft, sie an seinem verstörenden Kopf-Universum teilhaben lässt und dabei hinausreißt in den Schwindel der Freiheit. Sein neugieriger Blick auf die Welt verrückt die Maßstäbe der Normalität und verbindet wachste Zeitgenossenschaft mit den ganz alten Fragen, er gilt den Menschen wie den Maschinen und dem, was sie unterscheidet – im Urvertrauen auf die Macht des Bildes und im unausgesetzt ausgesetzten Grenzgang zwischen dem Visionären und dem Pathologischen.“
Ein wenig kleistisch schreibe er manchmal, bestätigt Hubert Winkels in der ZEIT, „aber mit viel maliziösem Humor, der ans Sadistische grenzt oder auch in Nonsens führt“ und „auf allerfreundlichste Weise jedes Ansinnen auf Normalität“ unterlaufe.

Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er auch Mathematik sowie Germanistik studierte und noch heute als Übersetzer und freier Schriftsteller lebt. Seit er 2008 am Bachmann-Wettbewerb teilnahm, ist er extrem erfolgreich und als Schriftsteller vielfach ausgezeichnet, u.a. 2011 für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 ausgezeichnet. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Auch auf dem Theater ist er enorm erfolgreich: Seine Stücke Vereinte Nationen und Die Abweichungen waren zu den Mülheimer Theatertagen 2017 und 2018 eingeladen.

Seine Texte kreisen um Kommunikation und die Bedingungen ihres Misslingens, oft unter Bedingungen der Digitalität. Oder eigentlich um die Unmöglichkeit, mit Sprache aus dem jeweils eigenen Universum in das der anderen zu reichen und die endlosen wie ungeeigneten Versuche, es dennoch zu tun.

In seinem jüngsten, gerade erst erschienenen Buch Die Bienen und das Unsichtbare untersucht der „ästhetisch wagemutigste Schriftsteller der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ Kunstsprachen (die bekannteste ist vielleicht Esperanto), ihre Entstehungsbedingungen und die persönlichen, tragischen Lebensgeschichten ihrer Erschaffer. Zu Beginn des Buches referiert Setz eine Erzählung von Franz Kafka:

„Ich besitze ein eigentümliches Tier, halb Katze und halb Lamm. Ein Familienerbstück. Seine Doppelnatur bringt einige Schwierigkeiten mit sich. Es scheint nicht nur Lamm und Katze, sondern auch, in gewisser Weise, Mensch sein zu wollen. Manchmal springt es auf den Sessel neben mir, stemmt sich mit den Vorderbeinen an meine Schulter und hält seine Schnauze an mein Ohr. Es ist, als sagte es mir etwas, und tatsächlich beugt es sich dann vor und blick mir ins Gesicht, um den Eindruck zu beobachten, den die Mitteilung auf mich gemacht hat. Und um gefällig zu sein, tue ich, als hätte ich etwas verstanden, und nicke. – Dann springt es hinunter auf den Boden und tänzelt umher.”

Hier geht es weniger um gelungene Kommunikation – sie erscheint von vorneherein als aussichtslos – als vielmehr darum, das Gefühl von gelungener Kommunikation herzustellen, das in sich schon höchstes Glück wäre.

Damit berührt Setz ein kommunikatives Grundproblem: Wir wissen nicht (und schlimmer: wir können epistemologisch gesehen auch gar nicht wissen), wie unser Gegenüber die Welt wahrnimmt. Wir wissen nicht, ob dass, was es als „gelb“ versteht, auch nur ungefähr so aussieht wie der Farbton, den wir als gelb empfinden. Noch viel weniger wissen wir, ob es unsere Worte versteht, ob seine Begriffe überhaupt dasselbe meinen wie unsere, und ob es auf dasselbe referiert, wenn es dieselben Wörter benutzt. (Kleine Anleitung zum Selbstversuch: Unterhalte Dich einmal für fünf Minuten mit eine*r AfD-Wähler*in darüber, was er*sie unter „Freiheit“ versteht). Wir wissen nicht, wie ein Katzenlamm die Welt sieht; aber, wenn wir ehrlich sind: auch nicht, wie Clemens J. Setz, Markus Söder, unsere Mutter, unsere Kinder oder unsere Partner*in sie sieht. What´s it like to be a bat? We´ll never know.

Doch in Flüstern gibt es eine grundsätzliche Verschiebung gegenüber früheren Werken von Setz: Bislang packte vor allem die Leser*innen das Grauen, angesichts der stets mit maliziöser Bösartigkeit in so sorgfältig wie absurd konstruierten, großartigen Spielanordnungen gefangenen neurotische Menschen, die Setz beschreibt. Die Hauptfiguren selbst dagegen scheinen aber eigentlich stets ganz erleichtert, sich die Welt vom Leib halten zu können mit technischen Hilfsmitteln, die Kommunikation simulieren.
„Bei Clemens Setz kehrt der Freak mit aller Macht als Phänotyp der Gegenwart zurück“, beobachtet Ijoma Mangold in der ZEIT. Und noch in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ruft Natalie, deren Geschichte wir in diesem „erhaben durchgeknallten Roman“ (Mangold) folgen, „gerne nachts mit erfundenen Problemen bei technischen Hotlines an. Je inhaltsfreier die Kommunikation, desto realer erscheint sie ihr.“
Auch in seinem Theaterstück Erinnya (uraufgeführt letztes Jahr in seiner Heimatstadt Graz, die deutsche Erstaufführung war gerade erst in diesem Corona-Herbst in Gießen) etwa scheint die digital geskriptete Kommunikation für den depressiven Matthias noch als Ausweg aus der ständigen Überforderung, dauernd mit der Umwelt kommunzieren zu müssen – er füttert sein Erinnya-Implantat mit früheren eigenen Äußerungen, woraus die KI dann mehr oder weniger sinnvolle Vorschläge entwickelt, was er in Smalltalk-Situationen sagen könnte – Sätze, die zugleich seine eigenen sind, und auch nicht, die aber auf jeden Fall ein Reden in der Uneigentlichkeit bedeuten.
Denselben Weg geht der Autor selbst, in Bot. Gespräch ohne Autor, in dem (angeblich?) ein mit tausenden Seiten veröffentlichter wie unveröffentlicher Texte des Autors gefüllter Sprachbot automatisiert Interviewfragen beantwortet und so dem Autor die Notwendigkeit persönlicher Auseinandersetzung (scheinbar) erspart.

Das hat sich in Flüstern gründlich umgekehrt: „C.“, die Hauptfigur, ist zwar ebenso gefangen und verzweifelt wie eigentlich stets das Personal bei Setz. Und man kann auch sie mit guten Gründen einen Freak nennen, einen durchaus bösartigen, aggressiven Clown. Aber, und das ist neu: Sie ist sich selbst voll darüber bewusst, wie verzweifelt ihre Situation ist. Und sie verzweifelt gerade an den algorithmisch bestimmten Kommunikationsskripts ihrer Gesprächspartner, die echten zwischenmenschlichen Kontakt verunmöglichen. Und wie das Katzenlamm in Kafkas Erzählung freut sich C., wenn es für einen Moment gelingt, das Gefühl von gelungener Kommunikation herzustellen: C. verbringt nach dem Tod seiner Frau seine Tage damit, die Hotline-Nummern aus Spam-Mails anzurufen und versucht, die Callcenter-Mitarbeiter*innen dazu zu bringen, von ihren Gesprächsleitfaden abzuweichen, die finanzielle Abzocke zum Ziel haben. In der unwahrscheinlichste aller Kommunikationssituationen versucht er, echten menschlichen Kontakt herzustellen, ihnen echte private Details, wenigstens den echten Namen, zu entlocken. Neu an Flüstern ist, dass die Traurigkeit ihrer Situation der Figur bewusst ist – und sie in diesem Bewusstsein alles daran setzt, aus ihr auszubrechen.

Rechte: Suhrkamp Theaterverlag, Berlin
Fillstills © Patrick Orth, Probenfotos © Katarina Sopčić

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Bühne • 4.3.21