MK:

Eine Versammlung bedeutet etwas, das über das Gesagte hinausgeht

Ausgangspunkt für die Inszenierung „Anti War Women“ und das Festival „Female Peace Palace“ ist der erste Frauenfriedenskongress 1915 in Den Haag. Was hat es mit der Versammlung von 1915 auf sich? Und kann uns der Mut der Frauen damals in unserer heutigen Situation inspirieren? In ihrem Beitrag für das MK: Magazin Nr. 2 fragt die Dramaturgin Olivia Ebert Fragen nach der Kraft einer Versammlung.

Worin liegt die Kraft einer Versammlung? „Die Versammlung bedeutet etwas, das über das Gesagte hinausgeht“, schreibt Judith Butler in ihren „Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung“. Nicht nur mit ihren Inhalten, auch in ihrer Form, ihrem Ablauf, ihrer Teilnehmer*innenliste und mit den anwesenden Körpern kann eine Versammlung die herrschenden Vorstellungen des Politischen in Frage stellen.

Hunderte Frauen, insgesamt über 1200 aus 16 Nationen, machen sich mitten im Ersten Weltkrieg auf den Weg nach Den Haag, um gegen Krieg zu demonstrieren und über Frieden zu reden. Sie überwinden Ängste und Vorurteile, sie setzen ihre körperliche Unversehrtheit aufs Spiel und ihre bürgerlichen Privilegien bewusst ein. Wesentlich an der Vorbereitung beteiligt sind die Münchnerinnen Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann, die der radikalen bürgerlichen Frauenbewegung angehören und aufgrund ihres Pazifismus von Zensur und Strafverfolgung bedroht werden.

In diesem Moment glaubt keine Regierung an Diplomatie, eine immer größer werdende Anzahl von Kriegsparteien bewirft sich gegenseitig mit Bomben und Propaganda, Deutschland führt einen gewaltvollen Angriffskrieg in Belgien und Frankreich und setzt kurz vor Beginn des Kongresses, in nur 170 km Entfernung am 22. April 1915 in Ypern, zum ersten Mal Giftgas ein. Trotzdem – oder gerade deswegen – versammeln sich Frauen aus Belgien und Deutschland, insgesamt aus 16 kriegsführenden und neutralen Ländern und verhandeln gemeinsam 20 Resolutionen für eine künftige Friedensordnung. Es ist zudem eine Versammlung von Körpern, die hier eigentlich gar nicht vorgesehen waren. Denn sie handeln ohne Mandat, ohne Wahlrecht, ohne Dachorganisation, schlicht als Bürgerinnen, darunter die ersten Ärztinnen und Juristinnen Europas, Künstlerinnen, Suffragetten. Sie greifen dabei auf ihre internationalen Netzwerke zurück, die sie als Aktivistinnen in der Stimmrechtsbewegung aufgebaut haben. Die gesamte europäische Presse berichtet, meistens in verächtlichem Ton, aber auch anerkennend angesichts der Ergebnisse. Wäre eine solche Demonstration für den Frieden und gemeinsame Arbeit für ein internationales Völkerrecht gegen patriarchale und militärische Gewalt heute möglich? Wo und wie? Sind wir zu verstrickt oder zu verstreut, um international solidarischen Widerstand aufzubringen, oder müssen wir uns vielmehr fragen, wie sich lokaler Widerstand transnational aufspannen, wirksam verbinden ließe, um ihm zu größerer Resonanz zu verhelfen? Auch deshalb ist die Sichtbarmachung und Verstärkung von zivilem Widerstand gegen gewaltsame Regime so wichtig.

Ein Foto vom ersten Frauenfriedenskongress (28.–30. April 1915) in Den Haag: Der Saal ist brechend voll. Die Frauen stehen eng beieinander, drängen sich dicht auf Emporen und in den Logen. Sie blicken uns an, scheinen entschlossen. In der Gemeinschaft auf diesem Foto bildet sich eine plurale Form des Protests ab. Über hundert Jahre und viele Kriege später beschäftigen uns die gleichen Themen. Haben wir auch die gleichen Visionen demokratischer Entwicklung und internationaler Solidarität? Welche Gesten und welche Formen der Versammlung stehen uns heute dazu zur Verfügung?

In kleinen Delegationen überbringen die Frauen im Anschluss an den Kongress die Resolutionen an die Regierungsvertreter kriegsführender und neutraler Staaten. Viele der 1915 formulierten Forderungen an eine zukünftige Friedensordnung finden sich 1918 in Woodrow Wilsons 14-Punkte-Plan wieder. 1919 gehen ihre Vorschläge zu internationalen Schiedsgerichten schließlich in die erste Völkerbundsatzung ein. Bis heute werden die Frauen, die 1915 die Ideen sammelten, diskutierten und zu Papier brachten, oftmals nicht genannt. Sie erleben das, was die US-amerikanische Essayistin und Aktivistin Rebecca Solnit als die „Indirektheit direkter Aktionen“ bezeichnet, und vielleicht ist dies etwas, das uns trotz der Frustration über die Lücken der Geschichtsschreibung auch heute zu mehr politischer Imaginationskraft motivieren könnte. Denn: „Auf den Aktivismus kann man sich nicht verlassen. Er ist nicht schnell.“ Er nimmt geheime Wege, ist ein Sprung ins Dunkle. Die Politiker*innen nehmen ihn selten ernst. Aber eine Diskursverschiebung in der Öffentlichkeit kann eine Änderung der Politik erzwingen. Und eine Versammlung kann eine weitere inspirieren.

Judith Butler schreibt: „Gewaltfreier Widerstand bedarf eines Körpers, der erscheint, der handelt und der mit seinem Handeln eine Welt begründen will, die anders ist als die, der er begegnet, und das bedeutet, der Gewalt zu begegnen, ohne deren Bedingungen zu reproduzieren. Er sagt nicht einfach Nein zu einer Welt der Gewalt, sondern gestaltet das Selbst und seine Beziehung zur Welt neu, indem er sich, und wenn auch nur versuchsweise, bemüht, die Alternative zu verkörpern, für die er kämpft.“ Die Frauen von 1915 beharren auf einer solchen Alternative: Sie überwinden den Hass, in den sie der Krieg manövrieren will, in dem ihre Körper einen Raum teilen. Und indem ihre Körper einen Raum teilen, demonstrieren sie, dass dies möglich ist.