MK:

Jackies Monolog von Mira Marcinów

1.

JACKIE: Ich bin weder nach der Mutter noch nach dem Vater geraten. Ich hatte meinen eigenen Platz. Im zweiten Stock. Über der Kommode. Im vergoldeten Rahmen. Dem einzigen in der elterlichen Wohnung. Dort hing, wie ein Heiligenbildchen, das Porträt eines hübschen Zwanzigjährigen. Der sich drei Stockwerke tiefer erhängt hatte, nach seinem Militärdienst, im Suff. Er hing tot im Keller. Und später im Wohnzimmer als Heiliger.

Vom Onkel und vom Krieg war oft die Rede. Ich erinnere mich, nur Gutes über den kleinen Onkel Pavel gehört zu haben. Man konnte meinen, es mit einer seltsamen Verbindung aus Engelein und Kind zu tun gehabt zu haben. Obwohl er nicht mehr klein war. Aber so wurde nun mal in unserer Familie gesprochen, als wäre er nicht verantwortlich gewesen für das, was er getan hatte. Schließlich hatte er meine Mutter und meine Großmutter – die Frauen, die mich großgezogen hatten – zu Klageweibern gemacht. Bei uns zu Hause gab es keine Männer. Es gab nur Platz für den heiligen jungen Mann – den einundzwanzigjährigen Verstorbenen. Ich versuchte, diese Lücke auszufüllen.

Um mich herum lauter ältere Schwestern, meine, die meiner Großmutter, die meiner Mutter und deren Töchter. In dieser Familie fehlte es an Söhnen, an jüngeren Brüdern.

Großmutter zerknüllte in den Händen ein tränennasses Taschentuch und wollte mir alles erzählen, brachte aber nicht viel heraus. Sie wiederholte bloß den Refrain, nicht die Strophen:

GROSSMUTTER: Mein Sohn kam von der Front zurück. Nach zwei Jahren. Ich wollte immer einen Sohn. Mein jüngstes Kind, das begabteste. Ein großer, kräftiger Kerl war aus ihm geworden, und der Alte (*dein Großvater) rührte mich nicht mehr an, weder mit dem Kabel noch mit dem Bügeleisen. Er ließ mich in Ruhe. Dennoch machte ich mir Sorgen um den kleinen Pavel, so wie sich Mütter eben um ihre Söhne sorgen, nur etwas mehr. „Mach dir keine Sorgen, Mutter.“ Ich erinnere mich noch genau, wie er das sagte er zu mir sagte an jenem Tag, als ich endlich aufhörte, wegen ihm tausend Tode zu sterben, als er aus dem Krieg zurückkam. Nicht tot, sondern gesund und munter, noch hübscher, als ich ihn in Erinnerung hatte, mein schöner, einundzwanzigjähriger Sohn. Abends ging er mit den Kumpels aus. Was trinken. Was man halt so macht, wenn man jung ist. Er blieb die ganze Nacht weg. Morgens gehe ich runter in den Keller Kartoffeln holen, um meinem Sohn ein ordentliches Frühstück zuzubereiten, denn in der Armee wurde er schlecht gefüttert. Ich steige die Treppen hinunter und je tiefer, je näher ich bin, desto stärker riecht der Keller nach März. Weißt du, Enkelin, wie Kartoffeln nach dem Winter riechen? Und genau diesen Geruch verströmte der Keller. Ich öffne die Tür, und da hängt mein Sohn, leblos. Ringsum lauter Spuren, dass er nach Luft gerungen hat, nüchtern geworden ist. Mit der Schlinge um den Hals geschaukelt, gegen die Wände getreten, gekratzt hat, er wollte leben, so wie ein Kind, das nicht sterben will. Warum erinnert sich der Mensch an solche Dinge? Sie lassen sich einfach nicht vergessen. Fast dreißig Jahre ist das her, und ich sehe es deutlich vor mir, als blicke ich in seine braunen Augen, in denen sich mein Gesicht spiegelt und an den Rändern das kleine vergitterte Kellerfenster. Hier über der Kommode hast du sein Gesicht, sieh es dir an, Enkelin, da hängt er und sieht dich an, mit seinen Rehaugen, dein Onkel Pavel.

So hängt er hier.

2.

JACKIE: Früher hat die Wohnung womöglich einen anderen Geruch gehabt. Früher hingen am Heizkörper nur getrocknete Pilze in einem Leinenbeutel. Sonst nichts. Die ganze Küche roch nur nach ihnen. Aber später, weißt du, wie Kartoffeln nach dem Winter riechen? So roch sie, unsere Küche. Wie der Keller.

Der Tod im Keller. Sex im Keller. Ich habe gelernt, tote Orte mit Männern auszufüllen. Obwohl ich keinen Sex hatte, bevor ich einundzwanzig war. Es ging nicht. Heilige bumsen nicht. Das erste Mal hatte ich Sex in der Küche, ein paar Tage nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag. Das war im März. Sex konnte zu Schwangerschaften führen, aber doch nicht zum Tod. Dachte ich. Schließlich hatte ich die Liebe der Männer, an denen es in meinem Leben von Anfang an gefehlt hat. Die Männer, die ich fand, waren ein wenig zu jung und zu eifrig, Selbstmord zu begehen.

Und damals erfuhr ich es. Erst damals, als meine Mutter trank und weinte, hörte ich:

MUTTER: Mein Bruder kam nach zwei Jahren von der Front zurück, und die, die er zu sehr liebte, war schwanger. Sie tauchte hier auf in einem gepunkteten Kleid, in einem von Regen durchnässten Mantel. Ich glaube, sie schluchzte. Sie hatte ihn verlassen, verletzt, auf dem Gewissen. Der kleine Pavel, geliebt und begraben. Anders kann es nicht gewesen sein. Es muss Tod aus Liebe gewesen sein. Nicht der Tod aus den Alpträumen des Krieges, der Kasernen. Mein ein Jahr jüngerer Bruder – fast so etwas wie mein Zwillingsbruder – war schließlich nicht im Krieg gestorben, nicht an den in den Armen das Zeitliche segnenden dunkeläugigen Feinden, nicht an den einen Gnadenschuss als Freundschaftsdienst erflehenden Waffengefährten. Er schrieb mir Briefe von der Front. „Mach dir keine Sorgen, Schwester“. Wiegelte er ab. Es wirkte beruhigend, dass er kämpfte und gewann, mit der Grausamkeit, dem Morden, dem Dämon. Er kam zurück. Er konnte also nicht wegen ihm, dem Krieg, gestorben sein, sondern nur wegen ihr, der Frau, einer wie ich.

JACKIE: In meiner Familie gibt es keinen Platz für die Frau im gepunkteten Kleid.

An den Selbstmord der Mutter erinnere ich mich nicht. Das ist bloß eine nette Familiengeschichte. Mutter erzählte die Geschichte auf die verschiedensten Weisen. Immer jedoch als die Legende von der herzlosen Mutter, doch irgendwie konnte ich, nachdem ich sie gehört hatte, nicht wirklich wütend sein auf meine Großmutter. Jedes Mal klang die Schilderung jener Ereignisse ein wenig anders. Aber der Refrain war stets derselbe:

MUTTER: Als dein Vater, die Liebe meines Lebens, uns verließ, versuchte ich mehrmals, mich umzubringen. Einmal wäre es mir fast geglückt. Du lagst damals neben mir im Kinderbettchen. Du hast nicht geweint, ich erinnere mich nicht, dass du, mein liebes Töchterchen, als Baby geschrien hast. Ich nahm eine Handvoll Tabletten und schluckte sie mit Wodka hinunter. Ich wachte die nächsten zwei Tage nicht auf, und meine Mutter rief nicht einmal den Krankenwagen. Ich erinnere mich genau an den Moment, als ich wieder zu mir kam, zwei Tage später. Ich wache auf, und neben mir bist nur du und blickst mich mit erschrockenen braunen Augen an. Putzmunter, mit den Patschhändchen am Gitter des Kinderbettchens hängend.

So hängst du hier..

3.

JACKIE: Ich war dein Sohn, Großmutter. Ich war dein Bruder, Mutter. Aber ich war nicht lebendig, Großmutter, als ich dein Sohn war. Und ich war nicht lebendig, Mutter, als ich dein Bruder war – der einzige Mensch, der es wirklich verstand, sich um dich zu kümmern, wie du sagtest.

Während der eine Teil von mir der Bruder und der Sohn Pavel war, war der andere Teil ganz erfüllt von der Frau, wegen der er sich – laut meiner Mutter und Großmutter – erhängt hatte und für die es in unserer Familie keinen Platz gab. Aber gab es für mich Platz in ihr? Muss ich tot blicken wie ein Heiligenbildchen, um euch lieben zu können und geliebt zu werden? Oder muss ich mir etwa seine Augen ausstechen? Mit einem Zirkel oder einer Nagelschere, sodass die Augäpfel hängen, wie Brüste nach dem Stillen, die Lider abfallen und leere Augenhöhlen zurückbleiben? Meine Augen sind keine braunen, glatten Kastanien, Mutter, obwohl du das immer zu mir gesagt hast. Meine Augen sind schwarz wie Kohle. Sie glänzen nur ähnlich wie die Augen deines Bruders. Doch das ist nicht der Blick eines toten Mannes, der aus Liebe gestorben ist.

Denn Liebe, so sie kann, meidet die Vernichtung. Das ist mein Refrain.

Ja, es gibt da immer noch die Loyalität gegenüber den Toten, aber auch gewöhnliche wilde Sehnsucht. Ich habe vergessen, wie man sich nach etwas sehnt. Schließlich kann man sich auch nach dem sehnen, was man nie gehabt hat. Erst dreißig Jahre später fand ich einen Weg, mit den Toten zu verkehren, ohne selbst eine Tote zu sein. Ich tat dies, um mich endlich selbst zu erfahren. Ich will einfach Tanz, Dasein, Fleisch und Blut. Denn Liebe, so sie kann, meidet die Vernichtung.

Ich werde nicht die Schuld derjenigen tragen, die am Leben blieb, die Schuld gegenüber den Toten. Stattdessen werde ich verschiedene Kleidung tragen und darin tanzen. In meinem Schrank hängt bereits ein gepunktetes Kleid.

So hängt es hier.