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„Unser innerer Refrain nimmt selten eine verbale Form an.“

Mira Marcinów schreibt preisgekrönte Erzählungen wie „Mutterlos“ oder die „Studie des polnischen Wahnsinns“ und ist gleichzeitig Psychotherapeutin. Im Gespräch erläutert sie, wie sie an ihrem Text für „Hungry Ghosts“ gearbeitet hat.

Wie kam es, dass Sie für unser Stück „Hungry Ghosts“ einen Text geschrieben haben?

Die Regisseurin Anna Smolar hat mich eingeladen. Wir kannten uns vorher gar nicht, haben aber beide in Polen denselben Kulturpreis, den „Paszport Polityki“, gewonnen, Anna einige Jahre vorher im Bereich Theater, ich etwas später für den Bereich Literatur. Ich bekam den Preis für mein Buch „Bezmatek“, das von einer Mutter-Tochter-Beziehung handelt, in der es viel Unwissenheit, Understatement und tatsächlich so etwas wie eine intergenerationale Weitergabe von Trauma gibt. Anna schrieb mir, dass ihr das Buch „tief unter die Haut“ gehe, und schlug ein erstes Treffen vor. Das war vor fast einem Jahr. Seitdem haben wir geredet, geschrieben und gemeinsam gelesen. Es ist eine wunderbare Erfahrung, auf diese Weise miteinander arbeiten zu können. Keine Eile. Das Thema reifen lassen, es diese Form annehmen lassen und keine andere.

Was hat Sie dazu bewogen, ihre eigene Geschichte mit uns zu teilen?

Ich begann die Vorbereitung des Textes mit einer wissenschaftlichen Recherche. Ich hatte einmal einen populärwissenschaftlichen Artikel über die transgenerationale Weitergabe von Traumata geschrieben, aber seitdem ist natürlich viel geforscht worden. Ich arbeite an der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Ich prüfe reflexartig zuerst, was wir über ein Thema wissen, was andere in diesem Bereich herausgefunden haben, was der neuste Stand der Forschung ist. Während meiner Vorbereitungen zum Schreiben des Textes brach der Krieg in der Ukraine aus, und dann verspürte ich ein starkes körperliches Symptom, das ich nicht fühlen wollte, das als Ausdruck eines intergenerationalen Traumas nachhallte. Viele mir nahestehende Menschen, die an den Grenzen zum Krieg leben, empfanden Ähnliches. Ängste – nicht meine eigenen – die im Körper erstarren. Leider war es mir aufgrund von Sprachbarrieren nicht möglich, ukrainische Kriegsflüchtlinge, die psychologische Unterstützung benötigten, direkt mit Gesprächen zu unterstützen. Ich kehrte in meinen Beruf zurück, den ich vor einiger Zeit aufgegeben hatte: Ich bin Psychologin und zertifizierte Tanz- und Bewegungstherapeutin. So kam ich spontan auf den therapeutischen Einsatz von Tanz in der Krisenintervention zurück. Gleichzeitig habe ich auch eine kurze Forschungsarbeit über die Wirksamkeit der nonverbalen Psychotherapie bei der Behandlung der intergenerationellen Übertragung von Traumata veröffentlicht. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ein wissenschaftlich-therapeutischer Einschub in „Hungry Ghosts“ nicht dazu beitragen würde, dass die Zuschauer*innen spüren, worum es in dem Stück geht. Ich arbeitete gerade an dem Entwurf eines weiteren Monologs für das Stück. Und dachte plötzlich: Das sind einfach Ausweichmannöver! Anstatt so einfach wie möglich zu schreiben, ohne den ganzen psychologischen Fachjargon, hatte ich versucht, mich irgendwie aus der Sache rauszuwinden. Ich beschloss, mit allen Theorien und psychotherapeutischen Erfahrungen im Hinterkopf, zu wagen, über mich zu schreiben.

In Ihrem Text hören wir, dass sich Familiengeschichten auf andere Personen übertragen. Welche Teile lassen sich Ihrer Meinung nach übertragen?

Am stärksten die Teile, die unausgesprochen und ungesagt sind. Diese Geschichten, die wir nur erahnen können. In diesem Text konzentriere ich mich auf die intergenerationale Weitergabe von Trauma, d.h. die Weitergabe von dauerhaften Veränderungen in der Psyche, die meist durch ein plötzliches negatives Ereignis verursacht werden. Wichtig sind aber auch unsere unbewussten Überzeugungen, was zu dem Trauma geführt hat. Wie können wir geheimnisvolle, negative Ereignisse, die sich über Generationen wiederholen, erklären?

Glauben Sie an die Existenz von kollektiven Traumata?

Das ist heute meines Erachtens keine Frage des Glaubens, sondern eine Frage des Wissens. Wir können die Instrumente der Neurowissenschaften, der Epigenetik, der psychodynamischen Theorien, der systemischen und Trauma fokussierten Therapien nutzen, um psychologische Reaktionen auf traumatische Ereignisse zu untersuchen, die ganze Gesellschaften betreffen. Die am meisten untersuchte Gruppe ist in dieser Hinsicht die Nachfolgegeneration von Holocaust-Überlebenden. Und die vielleicht bekannteste Forscherin dieses Phänomens ist Rachel Yehuda. Was mich mehr interessiert als das kollektive Trauma ist seine biologische Übertragung auf die nachfolgenden Generationen, dieser Alptraum der ererbten Leere, der durch Ereignisse verursacht wird, mit denen wir selbst nicht direkt konfrontiert waren, wie die intergenerationale Übertragung von Traumata zeigt.

Sie sprechen in Ihrem Text von einem inneren Refrain. Wie wichtig ist diese Melodie in Ihrem Leben?

Unser innerer Refrain nimmt selten eine verbale Form an. Als ich diesen Text schrieb, suchte ich nach Worten, um das zu benennen, was in mir eine Wiederholung der Familiengeschichte ist. Aber auch meine Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen. In der Tanz- und Bewegungstherapie spricht man von sogenannten Stereotypen, Bewegungswiederholungen, die Spannungsfelder im Körper erzeugen und bei der Person das Gefühl hinterlassen, dass sie sich selbst, ihren Körper, nicht vollständig erleben kann. In diesem Fall brauchen wir Hilfe, um die Muster zu ändern. Eine Methode zur Befreiung besteht darin, sich dieser Wiederholungen bewusst zu werden und darüber zu sprechen. Für mich hatte das Finden der Worte des Refrains eine selbsttherapeutische Funktion.

Das Ende deines Texts klingt wie eine Befreiung – eine Erleichterung oder eine Art von Trauma Integration. Wozu dienen die verschiedenen Kleidungsstücke im Schrank?

Ja, ich wollte in diesem Abschnitt unbedingt über den Heilungsprozess im Bereich des an mich weitergegebenen Traumas sprechen. Ich möchte die Metapher der verschiedenen Kleidungsstücke im Schrank nicht erklären, auch nicht die, die in meinem Elternhaus verboten sind. Denn dafür habe ich die Metapher verwendet, damit jeder sie auf seine eigene Geschichte beziehen und auf seine Weise verstehen kann. Aber was ich von einer so schmerzhaften therapeutischen Arbeit wie der Arbeit mit transgenerationaler Übertragung von Traumata erwarte, ist in erster Linie ein Gefühl der Integrität, Präsenz und Authentizität. Oft müssen wir die schwierigsten Erfahrungen in uns hineinlassen, damit wir nicht mehr davon abgeschnitten sind, mit unserem eigenen Körper in die Realität einzutreten.