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„Was für Planeten unsere Körper sind…“

Die polnisch-französische Regisseurin Anna Smolar über ihre Leidenschaft für Zellen, Louis de Funès und ihre Arbeit an „Hungry Ghosts“, ihrem Stück über vererbte Wunden und die Macht des Schweigens. Das Gespräch führte die Dramaturgin Viola Hasselberg.

Viola Hasselberg: Woher rührt Deine Faszination für eher komplexe, auf den ersten Blick abstrakt erscheinende Themen? Biologische Zellen sind sehr wichtig in Deiner Arbeit. Du hast z.B. eine Arbeit über die Afroamerikanerin Henrietta Lacks realisiert, deren Zellen - ohne ihr Wissen - für die genetische Forschung benutzt wurden, und wir beschäftigen uns in „Hungry Ghosts“ mit Epigenetik. Warum und wie näherst Du Dich diesen komplexen Themen?

Anna Smolar: Ab einem bestimmten Moment dachte ich sehr viel mehr über den Körper nach. Was passiert in oder mit unseren Körpern und wie kann der Körper zur Bühne werden für politische Themen? Ein Beispiel dafür war meine Arbeit über Henrietta Lacks, eine Geschichte über den medizinischen Fortschritt, darüber hinaus die Erzählung einer dramatischen weiblichen Biografie, die für einen gewaltigen, ja revolutionären wissenschaftlichen Fortschritt benutzt wird. Ähnlich ist es auch in unserer aktuellen Arbeit im Kontext der Epigenetik, ich habe das Gefühl, dass der Körper unerzählte Geschichten zum Ausdruck bringen kann, dass wir, wenn wir ihm trauen, in bestimmte Dimensionen geführt werden, die auf politischer Ebene unsere Denkmuster ändern. Der Körper kann uns dafür Perspektiven öffnen, in welchen anderen Formen wir Gesellschaft organisieren oder Debatten führen, wie wir Dinge benennen – oder wie wir die nächste Generation erziehen. Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass mich die Auseinandersetzung mit dem Körper, auf einer wissenschaftlichen, faktenbasierten Ebene, zu einer neuen Art des Nachdenkens führt.

Die Zukunft war selten zuvor mit einem so großen Fragezeichen versehen. Zurück zu den Zellen: Ich glaube, Zellen sind wie eine Art Gate, in dem ein wissenschaftlicher und ein spiritueller Weg zusammenkommen, Zellen sind für mich irgendwie sehr performativ.

VH: Zellen sind ja neben ihrer biologischen Bedeutung auch eine Metapher für die „Zellen“ in unserer Gesellschaft, Freundschaftszellen, Zellen der Familie, der Netzwerke und mehr.

AS: Auf der performativen Ebene meint das Sprechen über Zellen ein Erzählen von den Gesellschaften, in denen wir leben. Das findet sowohl auf der Bühne als auch im Publikum statt. Wir haben hier zwei Gruppen von Menschen, die sich abends um sieben oder acht Uhr in einem Raum verabredet haben, um in einen Spiegel zu schauen mit Hilfe einer Story, die uralt ist, weil die Geschichte über Zellen in gewisser Weise die Geschichte der Menschheit erzählt. Aber die Epigenetik ist ein neues Narrativ, ein vergleichsweise neues Wissen. Im Moment ist es eher eine vage Ahnung, die viele Leute haben, wenn sie Epigenetik hören: „Ja, man kann ein Trauma erben, Gene können sich umweltbedingt verändern, können an- und abgeschaltet werden durch Erfahrungen.“ Aber eben genauso: „Ein Trauma kann geheilt werden!“ Diese Dinge interessieren immer mehr Leute, sehr viel Literatur setzt sich damit auseinander. Was trage ich mit mir herum, das hinter dem Sichtbaren versteckt ist? Vielleicht steht diese Auseinandersetzung noch am Anfang, aber ich glaube, sie wird umfassender und tiefer werden. Dann können wir von dem neu gewonnenen Wissen vielleicht profitieren, z.B. wenn wir über Erziehung, über das Gesundheitswesen, über soziale Gerechtigkeit oder ganz einfach über die Heilung von Trauma sprechen.

VH: Ich glaube, viele ahnen, dass die kommenden gesellschaftlichen Herausforderungen und der Wandel so umfassend sein werden, dass wir einen anderen Schlüssel brauchen, um auf diese Formen der Veränderung vorbereitet zu sein. Wir schauen intensiver in den Spiegel und fragen uns vielleicht, warum ist das jetzt so, wie ist das gekommen?

AS: Dieser Wandel ist bereits ein wenig sichtbar in der Art, wie der Krieg im Kontext der russischen Aggression beschrieben wird. Zu Beginn der Invasion gab es Artikel in Polen, die die Konsequenzen des Krieges für die nächste Generation aufzeigten, die beschrieben, wie man mit traumatisierten Menschen umgeht, um zu vermeiden, dass eine ganze Nation für weitere viele Generationen komplett traumatisiert wird. Es gab viele Gespräche über Menschen, die Geflüchtete aufgenommen hatten, die den Alptraum des Krieges erlebt hatten, wie soll man sich da richtig verhalten? Was kannst Du fragen, was lieber nicht? Dieses wachsende Wissen über den Umgang mit Trauma, wie schafft man Raum für das Leiden, wie redet man miteinander – das alles ist komplett neu.

VH: Wir brauchen zukünftig vermutlich noch größere Kapazitäten für Empathie. Immer wieder ist unsere Solidarität gefragt. Weil jemand alles verloren hat, und jemand anderer nicht. Wie hört man sich gegenseitig zu? – Du hast eine besondere Arbeitsmethode, die die Lust an der fiktionalen Erfindung mit wissenschaftlichen Fakten verbindet, dazu kombinierst Du choreografische und musikalische Passagen sowie poetische Texte weiterer Autor*innen. Hast Du immer schon so gearbeitet?

AS: An einem bestimmten Punkt meiner Theaterkarriere war ich eifersüchtig auf eine Freundin in Paris, eine Dokumentarfilmregisseurin. Sie genoß die Freiheit, ihre Themen selbst zu wählen und tief in sie einzutauchen, mit einer ganz eigenen Sprache. Meine Chance kam, als ich eine Arbeit für das Jüdische Theater in Warschau machen konnte. Ich entschied mich, über die Lebensumstände des Ensembles als polnische, aus traditionellen, katholischen Familien stammende Künstler*innen zu erzählen, die jetzt die Verantwortung dafür trugen, die jüdische Kultur in Polen weiter zu vermitteln, obwohl diese Kultur vernichtet wurde. Wir entwickelten ein mockument, basierend auf ihren eigenen Erinnerungen aber auch mit Spaß an der Erfindung. Die Zusammenarbeit mit dem Ensemble war unglaublich eng. Dann wurde diese Geschichte auch für mich persönlich relevant, denn bis zu diesem Zeitpunkt waren meine jüdischen Wurzeln weder besonders relevant noch sichtbar für mich gewesen. Dieser Theaterabend wurde zur Metapher für die Beziehung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in Polen. Seit dieser Inszenierung arbeite ich überwiegend so, lade ein Team zu einem Thema ein, Spieler*innen, Dramaturg*innen, Komponist*innen, Choreograf*innen und warte auf die vielstimmige Resonanz. Diese läuft meinen eigenen Ansichten zum Teil völlig zuwider, was hoch interessant ist. Über diese Probenprozesse können wir alle unsere eigene, winzig kleine Perspektive erweitern, voneinander lernen. Ich bin besessen davon, mein Skript über Improvisationen zu entwickeln.

VH: Das braucht sicherlich viel Vertrauen in das Ensemble. Du bewegst Dich zwischen verschiedenen Ländern, – Litauen, Polen, Frankreich, Deutschland, – hat das direkten Einfluss auf dein Arbeiten?

AS: Es bedeutet zunächst, nicht in meiner Muttersprache, sondern auf Englisch zu arbeiten, was einen gewissen Grad von Freiheit herstellt. Du bist nicht ganz Du selbst, trittst leichter in Kontakt mit den anderen. Jeder neue Ort bedeutet neue Regeln, Du findest heraus, welche Spannungen in einer Gesellschaft existieren. Dinge, die zuhause nicht so wichtig sein mögen, bekommen plötzlich eine große Bedeutung. Als ich in Vilnius ein Stück über Gewalt in kulturellen Institutionen inszenierte, fand ich tatsächlich eine ganz andere Realität vor als die in Polen vorherrschende, wo die Idee des „genialen Meisters“, der größere Befugnisse hat als alle übrigen, immer noch stark vertreten ist. Was zu Konsequenzen führt in der Art und Weise, wie Hierarchien gebildet werden, die wiederum Muster von Gewalt reproduzieren. Andere Realitäten zu studieren, hilft mir, meine eigene besser zu verstehen.

VH: Zurück zu unserem Stück „Hungry Ghosts“, wie kamst Du auf diesen Titel?

AS: Ich sah ein Video über Trauma (lacht) und interessierte mich für den Arzt und Psychologen Gabor Mate. „Hungry Ghosts“ ist einer seiner Buchtitel. Im Buddhismus und in der chinesischen Tradition repräsentieren „hungrige Geister“ Wesen, die von einem großen emotionalen Bedürfnis, quasi animalisch angetrieben werden. Diese Vorstellung fand ich passend für unsere Geschichte, weil sie ein großes Paradox in sich trägt: Der Hunger ist ganz real, er bedeutet Libido, Vitalität, Lebenslust. Aber auf der anderen Seite steht er für den Ausdruck einer dunklen Seite, für das nicht Körperliche, für das in der Idee von Schatten Verwurzelte, das Unbekannte und Verborgene. Ich erwarte jetzt nicht, dass die Schauspieler*innen Geister spielen. Es geht mehr um die Idee, dass in dem Raum, in dem wir uns befinden, eine kleine Spur von Menschen aus der Vergangenheit zu finden ist, und deren „Hunger“ sagt vielleicht etwas aus über unsere Entscheidungen, unser Verhalten, Emotionen, Reaktionen, Gesundheitsprobleme und unsere nächtlichen Alpträume.

VH: Wir erzählen in unserem Stück von schlechten Angewohnheiten und von Schwächen einer Theatertruppe, wir erzählen von unserer Unfähigkeit und vom Stress. Das ist oft sehr witzig und die Farce ist ja ein großer Teil unseres Theaterabends. Was bringt Dich zum Lachen, was ist komisch für Dich?

AS: Die Notwendigkeit, durch das Lachen in schmerzhaftere und schwierigere Gebiete vorzudringen, ist in der Probensituation wirklich existentiell. Das Lachen öffnet den Körper, das ist im Grunde beinahe ein mechanischer Prozess.

VH: Zum Probenbeginn sahen wir Filme von Louis de Funès. Du magst seine Filme offenbar?

AS: Ich liebe Louis de Funès! Ich bewundere diese perfekte Technik, Dich zum Lachen zu bringen.

VH: Der Mechanismus, beim Lachen etwas loszuwerden, hat durchaus eine Verbindung zu den im Trauma gestauten oder eingefrorenen Energien, die aus dem Körper abgeführt werden müssen.

AS: Ja klar. Aber ich muss einen perversen Aspekt des Lachens hinzufügen, und die Farce zeigt ihn sehr deutlich: Lachen bringt die Leute nicht nur auf heilsame Weise zusammen, sondern ist ein mächtiges Werkzeug, um Stereotype und Diskriminierungen zu festigen, um eine Gruppe auszuschliessen und die Dominanz einer Gruppe zu zementieren.

VH: Was hat Dich in unserer Beschäftigung mit vererbten seelischen Wunden und ihren Auswirkungen auf den Körper besonders überrascht?

AS: Ich war gepackt von den wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie ein Trauma sich in die Zellen einschreibt. Aber ebenso in das kollektive Gedächtnis - mit einer gewissen Zwanghaftigkeit zur Wiederholung. Ich glaube, wir sprechen gerade nicht ohne Zufall so häufig über die Figur der Hexe. Weil diese Figur zeigt, wie sehr alte Muster zwischen Männern und Frauen, zwischen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, Einfluss nehmen auf die Art und Weise, wie wir immer noch soziale Beziehungen knüpfen. Es gibt diesen Spruch, dass wir alle die Enkelinnen der verbrannten Hexen sind, aber wir sind genauso die Enkelinnen derjenigen, die die Hexenverbrennungen angezettelt haben.

Niemand ist unschuldig. Für Gesellschaften mag die Auseinandersetzung mit kollektivem Trauma frustrierend und anstrengend sein, weil das Gefühl der Schuld und der Mitverantwortung uns zu lähmen scheint und den Weg zu neuen Fundamenten blockiert. Auf der individuellen Ebene ist der Weg vielleicht klarer, Du bist verantwortlich für Deinen eigenen Garten, und Dein Weg wird von der Aussicht auf Erlösung oder Erleichterung belohnt. Auf der kollektiven Ebene ist das komplizierter. Wer führt solche Prozesse an, was wäre eine globale Reaktion?

VH: „Ein kollektives Trauma erfordert eine kollektive Reaktion“, haben wir gehört von einem der Experten, aber wie sieht sie aus?

AS: Wir haben die Beispiele von sehr klugen kollektiven Reaktionen. In Ruanda, nach dem Genozid, wurde Traumaheilung eine wichtige Angelegeheit des Gesundheitssystems. Das war eine Art kollektiver Therapie in großem Maßstab. Ich finde es höchst spannend, konkrete Archive über positive Erfahrungen der kollektiven Traumaheilung anzulegen. Wir haben eher den Hang dazu, die schlechten Erfahrungen weiterzugeben.

VH: Zwei letzte Fragen: Du hast die polnische Autorin Mira Marcinów eingeladen, für „Hungry Ghosts“ einen Monolog zu schreiben. Mira hat u.a. eine Studie über den „Polnischen Wahnsinn“ verfasst und ein sehr poetisches Buch über den Tod ihrer Mutter, „Mutterlos“. Für ihren Monolog in „Hungry Ghosts“ stellt sie eine persönliche Geschichte zur Verfügung.

AS: Ich las „Mutterlos“, als ich schon an „Hungry Ghosts“ arbeitete. Sie schreibt über die Verbindung, eine riesige Liebe zwischen Mutter und Tochter, die von ihr aber auch als toxisch beschrieben wird. Obwohl Mira selbst Psychologin ist, hat sie hier keinen therapeutischen Diskurs über ihre Mutter geschrieben, sondern sie betrauert sie, sie erinnert sie, erzählt ihre sehr eigene Geschichte. Mira entscheidet sich, sich nicht „politisch korrekt“ auszudrücken und von einer Liebe zu reden, die voller Schmerzen ist – ein schwieriges Erbe. Die Bewunderung für ihre poetische Sprache brachte mich auf die Idee, sie nach einem „Artefakt“ für unser Stück zu fragen, zumal sie sich auch mit Fragen der Vererbung auseinandersetzt, mit Übertragungen zwischen Generationen. Für mich handelt unser Stück mittlerweile von einer Art „Gefühlsarchiv“. Einerseits gibt es diese Story, die wir auf der Bühne erzählen, aber es entsteht auch ein zweiter Raum für die vielen Geschichten all der Menschen, die hier mitarbeiten, die alle ein kleines Stück ihrer persönlichen Erfahrungen in dieses Kunstwerk mit einbringen. Ich glaube, dass Theater der ideale Ort ist, um sogenannte Tabuzonen zu betreten. Man kann die Kontrolle ein wenig verlieren und sich Dingen öffnen, die in normalen Gesprächen unmöglich sind. Die Unmöglichkeit von Gespräch – davon handelt unser Stück. „Als das Schlimme passierte, haben wir nicht darüber gesprochen.“ Das gilt für die meisten Familien.

VH: Es betrifft nicht nur sehr altmodische oder verschlossene Menschen.

AS: Wir vermeiden zum Beispiel, mit unseren Kindern über den Tod zu sprechen, weil wir denken, das macht sie traurig. Aber Kinder sind überraschend bereit dazu. „Wann wirst Du sterben, Mama?“ Das ist die Frage. „Ich werde sterben, wenn mein Leben endet“. Und ich werde nicht lügen und sagen, dass ich hundert Jahre alt werde. Für Erwachsene ist es manchmal schwer das auszuhalten, aber Kinder verstehen etwas, wenn man Platz schafft für diesen dunkelsten, nicht besprechbaren Raum.

VH: Gibt es etwas, das Du den Zuschauer*innen von „Hungry Ghosts“ mitgeben möchtest?

AS: Ich wünsche mir, dass die Zuschauer*innen sich neugierig in diesen Abend setzen. Wir sind alle gewissermaßen Sklaven unserer beschränkten Perspektiven. Und nur ein kleiner Schwenk, wie wir die Realität interpretieren, wie wir auf Beziehungen blicken, wie wir innere Dialoge führen, wie wir darauf achten, was für „Planeten“ unsere Körper sind, könnte uns ein großes Potential für Veränderung schenken.