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Review zu "LA MER SOMBRE"

Im Oktober schreibt Simon Böhm über: LA MER SOMBRE
Mit Texten und Gedanken von Claude Cahun (UA), Regie: Pınar Karabulut

Foto: Krafft Angerer

Vereinzelung ist die Abwesenheit der Begegnung. Und zu Beginn von »La Mer Sombre« sind wir alle vereinzelt. Unsere Blicke zielen ins Leere. Die Bühne ist verlassen. Unter das Publikum gemischt haben sich die drei Darsteller:innen. Sie sitzen verstreut über die ganze Breite der Tribüne. Eine knappe Stunde später werden sie in der hintersten Ecke der Bühne, wenn schon alle Lichter bis auf ein letztes erloschen sein werden, nah zusammengerückt sein. Am Ende also eine Einheit bildend, beinahe so etwas wie einen einzigen Körper.

Bis es soweit ist, versammelt »La Mer Sombre« textliche Fragmente der symbolistisch-surrealistischen Künstler:in Claude Cahun (1894–1954), die neben dem Schreiben auch der Fotografie zugewandt war. Die Texte umkreisen Fragen der Fixierung – von Geschlecht, Liebe, Sexualität, Identität. Sie handeln von der Sehnsucht nach Freiheit, von der Rebellion gegen Rollenzwänge, sind politisch und mythologisch aufgeladen. Der (Bühnen-)Boden, auf dem dieser Diskurs stattfindet, ist buchstäblich verspiegelt.

In virtuosen Konversationen verhandeln die drei Darstellenden in eng anliegenden Einteilern Selbstliebe und Schönheit. An der Hüfte oder der Flanke des Oberschenkels befinden sich ovale Aussparungen. Die dort sichtbare Haut wirkt wie ein Symbol für all das Echte und Wahrhaftige unserer Persönlichkeiten, das nur partiell an die Oberfläche kommen kann, weil die beengende Macht gesellschaftlicher Normen auf eine Unterdrückung abzielt. Paradoxerweise liefert gerade diese Einengung die Körperkonturen erst fremden Blicken aus. Die französische Philosophin Anne Dufourmantelle schreibt in ihrem Text »Verteidigung des Geheimnisses« treffend: »In der Schamhaftigkeit sucht das Subjekt Schutz vor den entfremdeten und besitzergreifenden Blicken des anderen. Sie offenbart und beschützt einen beständigen Glutkern.«

Wir aber blicken hin. Blicken auf drei Körper, die sich winden, auf- und abgehen, zittern. Letzteres rebelliert besonders eindrücklich gegen alle Versuche der Fixierung. Was zittert, was in Schwingung ist, lässt sich nicht bestimmen, hat keinen permanenten Aufenthaltsort. So begleitet das Zittern die Angst, das Erbeben die Wut, das Schaudern die Rührung. Gefühle sind bewegte Zustände. Elektronische Sounds bilden dazu eine Art Hintergrundrauschen, durch das schrille Tonfolgen immer wieder hindurchdringen, vergleichbar dem Kreischen von Möwen unter dem Brecherklang von Wellen an einem felsigen Riff.

Das Bühnenbild kontrastiert die Dynamik der Gefühle durch eine übergroße Skulptur in Herzform mit einem Auge in der Mitte sowie einem Torbogen. Bald hängt eine der Spielenden darin kopfüber. Alles ist verdreht. »Wohin gehst du?«, wird sie gefragt. Sie antwortet, sich weiter verrenkend, sie gehe ihren Visionen nach, mit der Katze spazieren, an den Stränden von Jersey entlang oder, last but not least, heteronormative Ordnungsprinzipien durchbrechen. Auch diese sind Fixierungen, die sich in unseren Köpfen festgesetzt haben. Gefühle begehren dagegen auf. Auch die von Cahun. Am Ende der Klettersequenz heißt es: »Es gibt Sätze, die dazu da sind gefühlt zu werden. Wozu sagen, ich liebe sie, wenn ich es doch fühlen kann.« Nicht einmal sprachliches Korsett braucht das Gefühl.

Und auch das Schauen droht dem Fühlen. Der kritisch-prüfende Blick stellt sich allzuoft gerade in den Dienst der Unterdrückung des Lebendigen. Wenn wir durch die Straßen laufen und einander beäugen. Kleidung, Frisur, Gesichtsausdruck. Unsere wahrnehmbare Äußerlichkeit liefert uns aus. »La Mer Sombre«, das dunkle oder trübe Meer, ist in dieser Hinsicht nicht nur eine Metapher für die seelischen Schatten, die Cahun erforscht hat. In der undurchdringlichen Trübnis der Meerestiefen sind wir unserer Äußerlichkeit entbunden. Schauen lohnt nicht länger. Fixierende Blicke fallen ab.

Die Frage bleibt, ob diese Dunkelheit des Meeres der einzige safe space ist, in dem eine freie Entfaltung möglich ist. Die Trübnis mag wie die Vagheit eine Zuflucht sein, ein permanenter Lebensraum dagegen nicht. Dennoch heißt es wie zum Trotz: »Wir gehen vielleicht noch weiter, dem Unbekannten entgegen, sich in der Dunkelheit vorantastend.« Solch blindes Tasten erfordert Vertrauen und dieses sei Cahun zufolge wie ein Spiegel: reparabel, wenn zerbrochen. Jedoch, so ernüchtert die Erwiderung, bliebe ja der Riss in der »fatherfucking Spiegelung« sichtbar. Wo Vertrauen verlorengeht, verwandeln sich Risse bald in Gräben. Menschen, die misstrauen müssen, drohen zu vereinzeln.

Auch die Wandlung des Bühnenbilds spricht diese Sprache. Torbögen werden auf- und wieder abgebaut, eine Badewanne wird hineingeschoben, mit Schaum befüllt und später, nachdem alle drei Spielenden darin gebadet haben werden, einfach wieder hinausgefahren. Nichts bleibt, nichts dauert. Alles Transit. »Wohin also gehst du?«, will ich ein weiteres Mal fragen. Cahun würde antworten: »Ich werde nur grobe Skizzen geben. Nachdem man die Mechanik auseinandergebaut hat, bleibt das Mysterium intakt.« Cahuns Texte spielen Fangen mit uns, beständig fliehen sie dem zupackenden Griff unserer Ratio. Wie sollen wir uns aber je berühren lassen, wenn wir immer schon drauf und dran sind zuzupacken?

Womöglich braucht es einen Neubeginn. Mitten im Stück nehmen die Spielenden ihre Plätze im Publikum wieder ein. Durch die Räumung der Bühne ist es mit einem Mal unmöglich geworden, alle drei Spielenden gleichzeitig in den Blick zu bekommen. Das Mittel der Fixierung hat ausgedient, unsere Blicke müssen schweifen. Also drehen sich die Köpfe. Und wie sich das Publikum so auf die Suche nach dem Fortgang des Stücks begibt, sich für die Vieldeutigkeit dieses Abends und von Cahuns Texten öffnet, da passiert es, hier und da, dass Blicke, die zuvor auf der Bühne verharrten: einander begegnen.

Simon Böhm, 1994 geboren, studierte Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse, zuletzt bei Tilmann Habermas. 2016 ist er Gründungsmitglied von PRÄ|POSITION. Er lebt und schreibt in München – derzeit einen Roman und ein Drehbuch