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Ein Hauch des Grauens

Volha Hapeyeva über Pazifismus und patriarchale Strukturen des Krieges

Pazifismus als Utopie im Krieg, Krieg als Metapher und Ausdruck patriarchaler Strukturen, Ideologie als Selbsttäuschung? In ihrem literarischen Essay für den #FemalePeacePalace-Slam analysiert Volha Hapeyeva die Ursachen und Grausamkeiten des Krieges und hinterfragt auch, wie Pazifismus gelingen könnte. Denn selbst Demokratie ist „keine Garantie für den Frieden“.

„I was told the other day that the raids are carried out by women. Women’s bodies were found in the wrecked aeroplanes. They are smaller and lighter, and thus leave more room for bombs. Perhaps it is sentimental, but the thought seems to me to add a particular touch of horror.“

Virginia Woolf (7 June 1918, England)

„Ein Hauch des Grauens“ von Volha Hapeyeva

Niemand ist vor Krieg beschützt. Das ist unsere traurige Realität.

Wir leben ohnehin in konstantem Kriegszustand. Wenn man zuhört, wie wir sprechen, scheint es nie Frieden zu geben. Der Krieg als Metapher ist sehr verbreitet im Alltagsleben, im sprachlichen Diskurs, sei es in der Politik oder in der Liebe. Wir kämpfen gegen Krebs, wir kämpfen für die Liebsten, wir schlagen „Rap-Battles“ und gewinnen die Herzen.

Politische Sprache ist mit militärischen Metaphern kreuz und quer überwuchert, wenn man über Probleme spricht, die die Macht des Staats bedrohen, wie Inflation, Emigration, Epidemien (Pest, Covid etc.) oder invasive Pflanzen. Dann führt man laufend Kriege gegen Drogen, Terrorismus und sogar gegen Mücken und andere Hausschädlinge.

Die Situation des Krieges ist eine der Polarisierung der Ansichten und des Fehlens von gemeinsamen Grundlagen, oder besser gesagt, geprägt vom Unwillen, diese Grundlagen zu sehen, die wir als Menschen eigentlich haben.

Wenn ich über Geschichte als Schulfach nachdenke, erinnere ich mich als Erstes an die Daten von Kriegen und Revolutionen oder an die Namen von wichtigen Schlachten und Kriegsherren, als sei menschliche Geschichte vorrangig eine Geschichte des Krieges. Es ist zumindest traurig und meistens auch gefährlich, dass wir mit solchen Bildern und Konzepten im Kopf aufwachsen. Wir lernen, dass der Kriegszustand etwas Normales ist, vielleicht sogar etwas Nobles. Die Menschheit hat kein Problem damit, ihre Grausamkeit mit guten Absichten zu rechtfertigen, erinnert sei hier nur an die Kreuzzüge. Und wenn man in diesen Gedankengang noch die militärisch-patriotische Ideologie der meisten Staaten einfügt, braucht man sich nicht zu wundern, dass heutzutage wieder und wieder reale Kriege in der Welt herrschen.

Die Utopie des Pazifismus im Krieg

Im Vergleich zum Krieg ist der Begriff Pazifismus relativ neu, obwohl die Ideen des friedlichen Lebens schon aus früheren Zeiten bekannt sind. Die Erscheinung des Pazifismus als Bewegung scheint einen großen Schritt hin zu einem Gefühl von Menschlichkeit zu sein. Sie zeigt uns, dass es eine große Menge von Menschen gibt, die verstehen, dass Krieg und bewaffnete Lösung von Problemen und Konflikten unmenschlich und ineffektiv sind.

Pazifismus ist als Haltung möglich zu zwei Zeiten: vor oder nach dem Krieg. Auch in Definitionen liest man über die Ziele des Pazifismus, „bewaffnete Konflikte zu vermeiden, zu verhindern und die Bedingungen für dauerhaften Frieden zu schaffen“. Während der Situation des Krieges ist es einerseits nicht mehr relevant, weil es ums Überleben geht und weil es im Krieg keinen Platz für Menschlichkeit oder Dialog gibt, oder wie Simone Weil es formuliert:

Die Gewalt macht jeden, der sie erleidet, zum Ding. […] im wortwörtlichsten Sinne, sie macht ihn zum Leichnam.“

Andererseits können und müssen wir als Pazifist*innen weiter darüber nachdenken und betonen, wie wichtig es ist, sich von Gewalt und Hass fernzuhalten. Und das auch dann, wenn in der Situation unmittelbarer Nähe des Krieges diese Worte missinterpretiert werden können. Als Autor*innen und Künstler*innen reflektieren und dekonstruieren wir mit dem Krieg verbundene Begriffe wie Heldenmut, Soldatentugend oder Ritterlichkeit.

Die Heroisierung der Kriegsgewalt ist ein gefährlicher Mechanismus. Man kann verstehen, warum man so etwas tut, weil ohne sprachliche Verkleidung die Absurdität und Brutalität des Krieges nackt vor uns steht. Literatur, besonders die humanistische, hilft uns dabei, den Krieg tatsächlich als Krieg zu sehen und nicht als Heroenschauspiel. So kann man die Ilias als das erste pazifistische Gedicht bezeichnen:

„Die kalte Brutalität der Kriegstaten wird durch nichts verschleiert, weil weder Sieger noch Besiegte bewundert, verachtet oder gehasst werden.“

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Demokratie, Patriotismus und Gewalt – Ideologie als subjektive Selbsttäuschung?

Mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und des Fortschritts ist die Hoffnung gewachsen, dass der Krieg als Mittel zur Streitbeilegung überholt sein würde. Leider ist das nicht der Fall. Die meisten Länder verfügen über Armeen und Rüstungen. Und paradoxerweise (oder vielleicht auch nicht, wenn man es genauer betrachtet) ist das demokratischste Land der Welt (zumindest proklamiert es das), die USA, auch der mächtigste und militaristischste Staat. Das bedeutet, dass auch die Demokratie keine Garantie für den Frieden ist. Demokratie bedeutet nicht, dass sie gewaltfrei oder nicht-patriarchalisch funktioniert. Demokratie besitzt immer noch Hierarchien.

Nationalstaaten entstehen in den meisten Fällen als Ergebnis von Kriegen oder Revolutionen. Sie sind auf Gewalt basierende Einheiten, und es ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich, aus diesem Rahmen herauszutreten. Deshalb sind die Bürger eines Staates so oft hin- und hergerissen zwischen der patriotischen Pflicht und der Abscheu vor dem Krieg.

Politik und Ideologien spielen sehr gut mit den menschlichen Gefühlen und lassen uns glauben, dass Opfer im Namen der Regierung, des Staats oder der Nation notwendig und edel sind. Ich will nicht sagen, dass es schlecht ist, das eigene Land zu lieben. Doch diese Liebe sollte nicht blind oder neurotisch oder die einzig mögliche sein. Deshalb wäre eine kritische Auseinandersetzung mit „patriotischen“ Gefühlen ein guter Ansatzpunkt, um über Pazifismus nachzudenken.

Es gibt eine merkwürdige, ich würde sogar sagen paradoxe Wendung an der Tatsache, wie der Staat Gewalt sieht. Wenn ein*e Bürger*in in die Beziehung „Staat – Bürger*in“ eintritt, gibt er*sie sein*ihr Recht auf Gewalt an den Staat ab. Aber im Falle autoritärer und anderer nicht-demokratischer Regime wird jede Aktion, die in einer Weise die Macht des Staats kritisiert oder infrage stellt – sei es ein stilles Sit-in oder ein Gedicht –, vom Staat als Bedrohung seiner Existenz betrachtet und somit als „gewalttätig“ angesehen. Sie kann und wird daher staatlicherseits mit Gewalt bestraft. Die paranoide Denkweise solcher Regierungen betrachtet jede Form der Nichteinhaltung oder des Ungehorsams als Rechtsbruch. Sie antwortet darauf mit realen Gewaltakten. Denn in den Augen des Staats gibt es keinen Unterschied zwischen einem Lied und einem bewaffneten Widerstand.

Das zweite entscheidende Element, wenn man über das Verhältnis von Gewalt und Nicht-Gewalt nachdenkt, ist die Verantwortung als Grund, warum man etwas tut.

Wenn ein staatliches Diktat oder eine (patriotische) Pflicht über der menschlichen Pflicht steht, hören wir, wie jemand sagt: „Ich würde das arme Mädchen gerne begnadigen, aber es ist falsch, da ich ein König bin“ oder „Ich konnte nicht anders handeln, es war ein Gesetz, meine Pflicht, ein Befehl“ usw. Bestimmte Institutionen des Patriarchats und die Ideologie entziehen dem Einzelnen die private – menschliche – Verantwortung, damit er*sie sich für seine*ihre „Unmenschlichkeit“ rechtfertigen kann. Als ob der Staat versuchte, eine äußere Ursache durch eine innere zu ersetzen. Die Ideologie zielt darauf ab, dass der Mensch die ideologische Ordnung des Staats als ein inneres moralisches Gesetz wahrnimmt. In Wirklichkeit handelt es sich um eine subjektive Selbsttäuschung. Der Mensch glaubt dann, im Namen Gottes oder der Partei oder eines anderen „Größeren“ Gutes zu tun. Deshalb folgt er blindlings den Forderungen und ignoriert die Momente, in denen der „Mensch“ in ihm erwacht oder sich bewegt.

Verhältnis patriarchaler Prinzipien zum Pazifismus

Leider ist die Lobby des Pazifismus nicht sehr stark. Hinter dieser Haltung stehen keine millionenschweren Konzerne oder Machthaber, die umgekehrt alles daran setzen, um den Pazifismus als langweilig, demütig oder passiv zu bezeichnen. Unsere Gesellschaften sind noch heute an patriarchalischen Prinzipien orientiert, wurden durch sie herausgebildet. Strukturelle Gewalt ist dort normal, wo der Reichtum meist von Männern kontrolliert wird, von Männern mit enormem Ego und ohne Empathie, wo noch die Ideologie der Feudalzeit herrscht, mit Ideen, dass man

„durch den Einsatz physischer Gewalt … auch die soziale Stellung eines Menschen definiert. Kämpfe, Schlägereien und das Jagen waren im Mittelalter alltägliche Handlungen, und vor allem für die Adligen stellte Gewalt einen Teil des Lebensgenusses dar.“

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Solange wir in diesen alten Metaphern und Denkrahmen operieren und uns verständigen – so lange werden wir auch in ihnen leben. Die Metaphern von Reise und Abenteuer, Gespräch und Mitgefühl bieten uns aber Alternativen. Liebevoll, empathisch und freundlich zu sein ist nicht langweilig oder passiv, es ist im Gegenteil eine sehr harte Arbeit und belegt das echte Heldische.

Autorin: Volha Hapeyeva

Quellen

(1) Simone Weil, „Die Ilias oder das Poem der Gewalt“, in: dies: Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, Diaphanes, Zürich 2011, S. 161 – 191, hier: S. 186.

(2) Ari Turunen und Markus Partanen, Bitte nach Ihnen, Madam. Eine kurze Geschichte des guten Benehmens, Nagel & Kimche, Zürich 2016, S. 125.

Volha Hapeyeva, geboren in Minsk (Belarus), ist Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierte Linguistin. Für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Ihre Gedichte wurden in mehr als 15 Sprachen übertragen. Sie ist Autorin von 14 Büchern auf Belarusisch. Auf Deutsch erschienen der Lyrikband „Mutantengarten“ (Edition Thanhäuser, 2020), der Roman „Camel Travel“ (Droschl Verlag, 2021) und der Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ (Verbrecher Verlag, 2022). 2021/2022 ist sie Stipendiatin des PEN-Zentrums Deutschland, 2022 DAAD Artists-in-Berlin Fellow. Sie wurde 2022 mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis ausgezeichnet.

Siehe https://hapeyeva.org