MK:

Ein Bau, meinem Selbst so ähnlich.

Digitales Programmheft "某种类似于我的地洞:心室片段
Heart Chamber Fragments"

Was bedeutet es, ein neues Herz zu erhalten? Wie sieht die Zukunft der Herztransplantation aus? Was für ein Ort ist der Untergrund unter der Erdoberfläche, unter unseren Füßen? Was ist das auf einmal für ein beunruhigendes Geräusch? Was ist der Bau eines Tiers unter der Erde? Was bedeutet die Erforschung dieser Räume für die Zukunft?

Performer*innen des chinesischen Theaterkollektivs Paper Tiger und das Ensemble der Münchner Kammerspiele haben sich auf eine performative Recherche in labyrinthische Gangsysteme unter der Haut, unter der Erde und in der Sprache begeben. Gleichsam als Wegmarken begleiten sie drei sehr unterschiedliche Texte auf dieser Expedition: Franz Kafkas postum veröffentlichter Text „Der Bau“, entstanden 1923, Jean-Luc Nancys „Der Eindringling“ aus dem Jahr 1999, und ein 1700 Jahre alter klassischer chinesischer Text des Dichters Tao Yuanming: „Der Pfirsichblütenquell“.

Es gibt in Franz Kafkas Text „Der Bau“ nicht nur eine Stelle, in der sich der unterirdische Baumeister – Kafka lässt offen, ob es ein Mensch oder ein Tier ist – mit seinem Bauwerk identifiziert: „Mir ist dann, als stehe ich nicht vor meinem Haus, sondern vor mir selbst, während ich schlafe, und hätte das Glück gleichzeitig tief zu schlafen und dabei mich scharf bewachen zu können.“ In einer im Manuskript von Kafka gestrichenen Stelle wird die physische Dimension dieser Identifizierung noch deutlicher und in einer Traumsequenz als Verschmelzung mit dem Bauwerk beschrieben: „Ich drückte mich wohl im Schlaf sehnsüchtig an meinen Nachbar, als sei er die Wand der Gänge meines Baues.“ Immer wieder wird das Bauwerk als Person angesprochen, als Akteur mit individuellem Handlungshorizont, Körper und Raum gehen ineinander über. Gleichzeitig entwickelt der Höhlen-Baumeister geradezu obsessiv und mit überbordender Freude am Detail ein komplexes Sicherungssystem zur Abwehr eines möglichen imaginären Eindringlings, der von außen aber ebenso gut von innen kommen könnte.

Das Herz als Eindringling, der erst wahrnehmbar wird, wenn er krank wird, beschreibt der im August diesen Jahres verstorbene französische Philosoph Jean-Luc Nancy in seinem Text „L’intrus“ aus dem Jahr 1999. Er verarbeitet darin die Erfahrung der eigenen Herztransplantation und beschreibt sehr genau ein doppeltes Fremdwerden: einerseits des eigenen kranken Herzens, „bislang so unsichtbar wie meine Fußsohle beim Laufen“, andererseits des neuen transplantierten Herzens, auf das der Körper Abstoßungsreaktionen zeigt.

Was also geschieht mit dem „Selbst“, wenn ein „fremdes Herz“ darin schlägt? Vor dem Hintergrund aktueller medizinischer Forschung zur Zukunft der Transplantationsmedizin bekommt die Frage noch eine neue Dimension: Die Aussicht auf die Transplantierbarkeit von Schweineherzen ist in greifbare Nähe gerückt und steht hier stellvertretend für die ambivalente Frage nach unserem Umgang mit dem technisch Machbaren. Recherchen führten das Team in diesem Zusammenhang in gegenwärtige Bereiche von Medizintechnik und Medizinethik. Schließlich bestimmt die Idee der Absicherung gegen unerwünschte Eindringlinge auch den klassischen Chinesischen Text „Der Pfirsichblütenquell“ von Tao Yuanming aus dem 4. Jahrhundert. Nach dem Durchgang durch eine Höhle jenseits des Pfirsichblütenwalds wird dort ein utopisches Gemeinwesen jenseits von Zeit und Raum imaginiert, das sich freilich nur dem absichtslos Streunenden öffnet.

Christoph Lepschy