MK:

Digitales Programmheft „Ха́та – Zuhause“

Lesen Sie hier ein Statement der Regisseurin Kamilė Gudmonaitė über ihre Produktion „Ха́та – Zuhause“!

Wut. Trauer. Schuld.

Über die Gratwanderung eines Theaterprojektes, das im Krieg über den Krieg spricht.

„Ха́та – Zuhause“ hat Ukrainer*innen und Russ*innen, die hier in München leben, eingeladen, an einem Theaterprojekt in den Münchner Kammerspielen teilzunehmen. Diese Teilnahme brachte die beiden Gruppen nicht zusammen, das wäre aktuell unmöglich für traumatisierte Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, also getrennte Proben, getrennte Interviews, voneinander getrennte Teile in der Aufführung.

Dennoch hat die litauische Regisseurin Kamilė Gudmonaitė den Versuch unternommen, den Abgrund, den dieser Krieg aufgetan hat, mit Hilfe ihrer Kunst anders zu beschreiben. Das ist zutiefst berührend, manchmal fast unerträglich schön, wenn gesungen oder getanzt wird. Und es hinterlässt völlig andere Gedanken als alle Nachrichten und Live-Ticker, mit denen wir täglich geflutet werden. Wir hören hier einzelnen Menschen zu, die ihre Geschichte erzählen, über ihre zerstörten Identitäten sprechen, ihre Flucht, ihre Verluste, ihren Hass, ihren Schmerz, ihr Schuldgefühl, ihre Scham. Immer wieder geht der Riss dieses Krieges mitten durch die Familiengeschichten, und das bereits über Generationen hinweg.

Dieser Krieg in der Ukraine hat eine Vorgeschichte: Die ständige angewachsene Repression und Unterdrückung in Putins Russland, die wir in Deutschland nicht ernst genommen haben, die für viele Russ*innen aber bedeutet hat, dass sie ihr Zuhause verloren haben. Zur Vorgeschichte gehört auch, dass im Jahr 2014, als die Krim von russischen Soldaten annektiert wurde und der Krieg in der Ukraine eigentlich begann, in Deutschland niemand auf die Barrikaden ging.

Der Blick auf die Hölle des Krieges fällt in dieser Aufführung von beiden Seiten verheerend aus, keiner der hier Mitwirkenden kann irgendeinen einen Sinn darin entdecken. Diesen Krieg bezahlen vor allem die Ukrainer*innen mit vielen Toten, sie wurden attackiert. Daran besteht kein Zweifel.

Wir Deutsche sind Zeug*innen, nicht unmittelbar betroffen, aber zutiefst verstrickt. „Dieser Krieg ist nicht unser Krieg, wir müssen vermeiden, hineingezogen zu werden“. Solche oder ähnliche Sätze hören wir in Deutschland des Öfteren. Sie stimmen nur zum Teil, denn die Verwerfungen des Krieges, die Wunden brechen auch in München auf. Wir sind aufgefordert, Solidarität zu zeigen, unser Hinsehen ist gefragt, auch eine Haltung.

Im Februar 2023 waren es 25.000 Menschen aus der Ukraine, die als Kriegsflüchtlinge im München registriert waren, aber es leben wesentlich mehr Ukrainer*innen hier, es gibt eine ukrainische Universität, Kyiv ist Münchens Partnerstadt. Es leben aber ebenso mehr als 17.000 Russ*innen in München.

In diesen Zeiten ist es fast unmöglich geworden, den Raum der Kunst von dem Raum der Propaganda zu trennen. Aber der Raum der Kunst muss offenbleiben. In diesem Stück äußern sich Russ*innen, obwohl das viele Ukrainer*innen schwer erträglich finden. Aber diese Russ*innen sprechen als Menschen für sich, weil es „die Russen“ ebenso wenig gibt wie „die Ukrainer“. Sie denken über persönliche Schuld, auch über Scham nach, fragen sich, was sie getan haben, um gegen das System Putin Widerstand zu leisten. Sie riskieren, dass ihr Auftritt Konsequenzen hat für sie persönlich. Was wäre gewonnen, wenn Russ*innen keine Gegenrede mehr riskieren?

Dieses Stück zeigt die Auseinandersetzung von Ukrainer*innen und Russ*innen mit der Frage nach einer russischen Kollektivschuld. Wir Deutsche haben uns alle mit der Frage einer Kollektivschuld auseinandersetzen müssen. Im zweiten Weltkrieg waren wir die Invasoren, in Russland und in der Ukraine, wir haben schwerste Schuld auf uns geladen. Aber es gab auch den Versuch, aus der Geschichte zu lernen bzw. gibt ihn hoffentlich noch immer.

Dieses Stück ist eine Einladung zum Verstehen. Und keine, ausgerechnet von uns Deutschen initiierte „Belehrung“, wie ein „Dialog“, wie womöglich der Weg zum Frieden aussehen könnte. Unsere Positionierungen in diesem Krieg sind verschieden, die Haltung der Ukrainer*innen, der Russ*innen, die Haltung der litauischen Regisseurin und unsere Haltung als Deutsche. Am Ende dieser Aufführung steht vielleicht ein Schweigen, weil es keine Lösung gibt, weil wir dem Grauen ins Auge gesehen haben. Aber es unterscheidet sich von dem lastenden, verdrängenden Schweigen, dem kalten (Ver)Schweigen.

Viola Hasselberg

Ein Gemälde von Sergiy Vasylkivskiy zeigt ein altes Bauernhaus. Davor beladen vier Personen einen Wagen.

Bild: Sergiy Vasylkivskiy

Ха́та ist ein uraltes Wort, das es in vielen slavischen Sprachen gibt, so auch im Russischen und im Ukrainischen. Es bedeutet Häuschen, Zuhause, Hütte oder auch Bude. Im Rahmen der Interviews, die die Regisseurin Kamilė Gudmonaitė im November 2022 in München geführt hat, blieb uns die Geschichte eines Ukrainers im Kopf, die zu diesem Titel des Stückes geführt hat. Er erzählte vom Haus seiner Großmutter auf einem Dorf in der Region Saporischja, ein Refugium für ihn innerhalb einer komplizierten Welt und einer konfliktreichen Familiengeschichte. Er verließ das Haus am Vorabend des russischen Angriffes auf die Ukraine im Februar 2022 und kehrte nie wieder zurück, weil das Haus seiner Großmutter von einer Bombe zerstört wurde, die auch sie selbst in den Tod riss. Das Haus ist unwiederbringlich verloren, er muss ein eigenes Zuhause aufbauen, an einem ganz anderen Punkt neu ansetzen.

Im Juni 2023 schreibt die ukrainische Autorin Oksana Sabuschko in ihrem Brief an den niederländischen Schriftsteller Arnon Grunberg: „Tausende von Büchern und Filmen über die Nazis und den Holocaust haben Europa nicht geholfen, das seit dreißig Jahre währende Anschwellen eines neuen faschistischen Reiches vor seiner Haustür zu erkennen - bis zu dem Moment, als dieses neue Reich bereit war, seine Panzer in das Haus Europa zu fahren“. Der Brief gehört zu dem Projekt „Letters on democracy“.

Dieser Text ist fünf Jahre alt, alles ist schlimmer gekommen, als Alexijewitsch es vorausahnt. Anlässlich ihres 70. Geburtstag spricht die Autorin im Jahr 2018 mit der Deutschen Welle. Sie fragt sich, warum sich das Leid in Russland nicht in Freiheit verwandelt? Sie analysiert eine Zeit der Härte, in der die Angst vor Russland als Mittel zum Machterhalt systematisch eingesetzt wird, berichtet über den Kriegszustand und verpasste Chancen.

Lesen Sie hier den Text auf der Seite der Deutschen Welle!

Die Regisseurin Kamilė Gudmonaitė hat von Herbst 2022 bis Frühjahr 2023 Ukrainer*innen und Russ*innen aus München zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine interviewt. Die Interviews treffen in „Ха́та – Zuhause“ in zwei strikt voneinander getrennten Teilen auf einen ukrainischen Chor und auf russische Tänzer*innen. Kollektive Kunstformen – gespeist von der Geschichte des jeweiligen Landes – treffen auf individuelle Erfahrungen der Gegenwart. Denn ein Volk besteht aus vielen Individuen. Sie alle gestalten die Zukunft.

In Teil 1 des Theaterabends sprechen Ukrainer*innen darüber, wie sich der Angriffskrieg Russlands auf ihr Leben auswirkt.

In Teil 2 des Theaterabends positionieren sich in München lebende Russ*innen, die ihrem Land den Rücken gekehrt haben, zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.