This page has not been translated into English. The page will be displayed in German.

MK:

Digitales Programmheft "Lurie’s Lyrics"

Boris Lurie: Our only master is the truth
von Eckhart Gillen, 2022

1924 in Leningrad geboren als jüngstes Kind von Shaina und Ilja Lurie, muss Boris Lurie im Teenageralter von 17 Jahren erleben, wie die 1925 aus der Sowjetunion in das unabhängig gewordene Lettland nach Riga übersiedelte Familie brutal auseinandergerissen wird. Seine Mutter Shaina, seine Großmutter und die jüngere seiner beiden Schwestern, Jeanne, warten im „Großen Ghetto“ des lettischen Riga auf ihre „Evakuierung“, die in Wirklichkeit eine Deportation in den Wald von Rumbula war, acht Kilometer von Riga entfernt, wo sie am 8. Dezember 1941 sich mitten im Winter nackt ausziehen mussten und erschossen wurden. Unter ihnen fand auch Ljuba Treskunova, seine Jugendliebe, den Tod.

Gegen alle Wahrscheinlichkeit gelingt es Boris Lurie mit seinem Vater Ilja die nächsten vier Jahre in deutschen Lagern zu überleben. Vierzehn Jahre nach Kriegsende kann er diese traumatischen Ereignisse erstmals auf seinem Bild „Freiheit oder Läuse“ (Liberty or Lice) artikulieren. Der Bildtitel steht für die sarkastische Zerrissenheit zwischen den Läusen als tödliche Bedrohung im Lager und der versprochenen ‚Freiheit’ in der neuen, doch fremden Heimat Amerika.

Auf diesem Gemälde überlagert und vermischt sich die Geschichte seiner Vergangenheit mit den schockierenden Erfahrungen einer aggressiven Konsumgesellschaft. Auf diesem Bild materialisierten sich erstmals unverdaute Erinnerungsbilder, wie die Fotografie des Rigaer Ghettos, ein Passfoto des Künstlers, ein Judenstern zwischen Reklamefetzen und hochhakige Schuhe zwischen den Daten der Massenerschießung im Dezember 1941 und seiner Befreitung 1945, die ihm wieder einen Zugang zu seiner traumatischen Vergangenheit eröffnen.

Lange vor seiner ersten Reise 1975 zum Tatort Riga, der zum Auslöser wird auch für eine literarische Aufarbeitung der Vergangenheit in Form seiner Autobiografie „In Riga“, ist das zunächst ‚unbewusste’ Hantieren mit Bildern der erste Schritt zu einem ‚bewussten’ Verstehen des eigenen Selbst in seinem späteren literarischen Schaffen, zu dem auch Gedichte in baltendeutscher Sprache und ein autobiografischer Rollenroman „Haus von Anita“ (Göttingen 2022) gehören.

Boris Lurie bekennt sich zu einer ernsthaften, ehrlichen, auf Wahrheit und Erkenntnis gerichteten Kunst gegen Dada-Ironie und Antikunst, die er mit der von ihm initiierten NO!art Bewegung zwischen 1960 und 1964 strikt abgegrenzt hat von einer eitlen selbstgenügsamen Kunstmarktkunst. Denn Kunst wurde für ihn buchstäblich zu einer Überlebenskunst.

Seine Kunst erweist sich als ein einzigartiges Medium für die Sichtbarmachung und Verarbeitung von Traumata. Die beste Möglichkeit, die zerbrochene Verbindung mit dem inneren Selbst wiederherstellen zu können, ist der Versuch des Traumatisierten, mit seinem Trauma in einen kreativen Dialog zu kommen. Die künstlerische Arbeit wirkt der Neigung zu innerer Desintegration entgegen und hilft so dem Betroffenen, wieder ein Gefühl für seine Identität und seinen Selbstwert zu entwickeln. Das Malen als somatische, künstlerische Tätigkeit ist weniger Rekonstruktion von Vergangenheiten als eine Suchbewegung, eine Wiederbelebung, ein Wiederfinden, dann Überprüfung, Verwerfung, Spurensuche, um zu beobachten, was sich herauskristallisiert und am Ende eine Konstruktion als spekulative Zusammenfügung mit offenem Ausgang.

Boris Lurie arbeitete inmitten der New Yorker Kunstszenen des Abstrakten Expressionismus, des Neodadaismus, der Neuen Figuration, der Pop art um 1960, in denen er sich, wie viele Zeugnisse belegen, auf gleicher Augenhöhe mit namhaften Kollegen wie Rothko, Rauschenberg, Warhol bewegte und vielfältige Kontakte pflegte. Obwohl er mit den avanciertesten Kunstformen arbeitete, ging es ihm immer nur darum, mit seiner Kunst etwas zu bewirken, vor allem aber seine eigene Situation besser begreifen zu können. Als Überlebender des Holocaust lebt er ja unwiderruflich in einer anderen Welt, auf einem anderen Planeten, in einem anderen Wertesystem. Schlimmer als die erlebten Verbrechen, die erfahrene Gewalt der Täter, war es für Boris Lurie und seine Leidensgenossen, die Gleichgültigkeit seiner Zeitgenossen zu ertragen. Parallel zu der berühmten Ausstellung „The Art of Assemblage“ (MoMA, 2.-12.10.1961), für die Alfred Barr, Jr. und sein Kurator William Seitz bereits Werke von Lurie ausgewählt hatten, die dann doch nicht gezeigt wurden, entstand die wohl am meisten verstörende Arbeit von Boris Lurie: „Flatcar, Assemblage, 1945, by Adolf Hitler“. Lurie verwendet ein anonymes Foto und stellt daraus einen Offsetdruck her mit der Bildlegende, die Adolf Hitler als Autor einer makabren Szene von kreuz und quer übereinander geworfenen nackten Leichen auf der offenen Ladefläche eines Anhängers ausweist. Was für eine Provokation für die New Yorker Avatgardeszene: Boris Lurie erklärt Adolf Hitler zum größten Aktionskünstler. Denn, wenn Kunst in das Leben überführt werden soll, dann ist Hitler der größte, mächtigste und wirksamste Künstler gewesen, der Künstler mit den am weitesten reichenden Folgen. Im Gegensatz zu den politischen Aktionskünstlern der 1960er-Jahre, die mit gezielten Regelverletzungen und einer Mischung aus dadaistischer Provokation und politischer Manifestation Kunst und Leben kurzschließen wollten, will Lurie aus dem Rohmaterial des Lebens, aus dem Schmerz, den das Leben ihm zugefügt hat, Kunst machen.

Die Kunst hilft ihm, sein vergangenes Leben, das so unwahrscheinlich und absurd war, zu verstehen, zu verarbeiten, zu transformieren und zu ertragen. Lurie ging es immer und ausschließlich um die Aufdeckung der Wahrheit über das Leben, über die Fortdauer der Gewaltverhältnisse und die Gleichgültigkeit des Publikums angesichts dieser Tatsachen.

Eckhart Gillen, promovierter Kunsthistoriker, lebt als freier Kurator in Berlin. Seit Mitte der 1970er Jahre Ausstellungen und Publikationen zur Kunst des 20. Jahrhunderts, für die er mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde.

Vorwort von Volkhard Knigge zum Band 

“Boris Lurie: Geschriebigtes Gedichtigtes”

erschienen zu seiner Ausstellung in der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald

Text von Matthias Reichelt im Ausstellungskatalog

“Keine Kompromisse. Die Kunst des Boris Lurie”

im Jüdischen Museum Berlin 2016