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MK:

„ ...obwohl ich Goethe leider nicht gelesen habe, doch von Hitler viel zu spüren bekam.“

Vorwort von Volkhard Knigge zum Band 
Boris Lurie: "Geschriebigtes Gedichtigtes"
erschienen zu seiner Ausstellung in der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald

Vom Dezember 1998 bis in das Frühjahr 1999 hinein hat die Gedenkstätte Buchenwald in ihrem Kunstmuseum eine Retrospektive der bildkünstlerischen Arbeiten Boris Luries gezeigt. Obwohl erste Arbeiten Luries bereits kurz nach Kriegsende entstanden sind, war dies seine erste umfassend angelegte Einzelausstellung in Deutschland. Der NO!art gewidmete Ausstellungen, in deren Rahmen auch Arbeiten von Lurie als einem Gründer dieser im New York der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre entstandenen Künstlerbewegung gezeigt wurden, hatte es zuvor zwei gegeben: 1973 in der Galerie René Block und 1995 in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin. 1988 war in der Edition Hundertmark, Köln, eine als Künstlerbuch von Dietmar Kirves gestaltete Anthologie zur „NO!art“erschienen, die von Boris Lurie und Seymour Krim herausgeben worden war. (1)

Ich erinnere mich noch gut an die Mischung aus Entsetzen und Faszination, die mich beim Durchblättern dieses Buches, auf das mich kurz nach seinem Erscheinen Thomas Howeg in Zürich aufmerksam gemacht hatte, befiel. Ganz augenscheinlich gründeten insbesondere die Arbeiten Luries in der konkreten Erfahrung des zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager. Ganz augenscheinlich schlugen diese Erfahrungen in den Arbeiten immer wieder durch. Und ganz augenscheinlich — und darin lag das Verstörende — setzte Lurie seine ganze Kraft dafür ein, diese Erfahrungen gleichsam im Rohzustand zu halten und wiederzugeben, d.h. ohne nachgetragene Sinngebungen und ohne den Eindruck zu erwecken, diese Erfahrungen ließen sich auch nur annähernd angemessen historisieren, was ja zugleich heißt, symbolisieren. Wer sich auf NO!art einlassen wollte, dem wurde abverlangt, sich mit dem Nationalsozialismus als einer zwar überwundenen aber unabgeschlossenen Geschichte auseinanderzusetzen und sich mit einer Welt zu konfrontieren, in der Gewalt Gewalt, Zynismus Zynismus, Schmerz Schmerz, Schmutz Schmutz, Leid Leid und Lüge Lüge blieb. Sublimation gab es in dieser Welt ebensowenig wie eine Vorstellung von Liebe, die ungeachtet der Vermarktung der (Frauen-) Körper und des Begehrens noch denkbar wäre. Kunst war hier nicht Synonym für das Schöne, Gute und Wahre, sondern Ausdrucksform für das realexistierende Hässliche, Böse und Unaufrichtige, war Müll, war Zerstörung, war Selbstzerstörung mit den ihr eigenen Mitteln und darin zugleich — paradoxerweise — Selbstbehauptung.

Boris Lurie ist 1924 in Leningrad in einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren worden. 1924/25 zog die Familie nach Riga. Nach der Besetzung des Baltikums durch deutsche Truppen erfolgten 1941 Gefangennahme und Verschleppung in verschiedene Konzentrationslager, darunter Riga, Lenta und Stutthof bei Danzig. Nur der Vater und Lurie selbst, der zunächst von der Ermordung wegen seiner Eignung für den Zwangsarbeitseinsatz zurückgestellt worden war, überlebten. Mutter, Schwester und weitere Verwandte sind ermordet worden. 1945 ist Lurie in einem Außenlager des KZ Buchenwald in Magdeburg befreit worden. Er war dort Häftling Nummer 95966. (2) 1946 wanderten er und sein Vater in die USA aus. New York ist seitdem das topographische und soziale Zentrum seines Lebens. Hier entstanden seine ersten Bilder. Mit den Mitteln der klassischen Ölmalerei versuchten sie, der KZ-Erfahrung Ausdruck zu geben. Back from Work 1946/47 (3) zeigt einen Strom von auf ihre Kreatürlichkeit reduzierter, sich in Verzerrung auflösender Menschen, die in tiefschwarzer Umgebung wie von Flammen durch ein Lagertor gezogen werden, das zugleich Krematoriumsofenöffnung ist. Die Welt hat in diesem Bild aufgehört zu existieren. Gewaltsames Verschlungenwerden ist die einzige Realität. Entrance (4) stammt aus der gleichen Zeit und ist ein Epitaph. Zwei zum Skelett abgemagerte Muselmänner, wie jene Häftlinge in der Lagersprache hießen, in denen jeder Funke Leben zum Erlöschen gebracht worden war, halten traurig-melancholisch grau in grau vor dem Eingang zu einem Raum mit brennendem Krematoriumsofen Wacht. Die Gesichter ausgezehrt aber vergeistigt, die Knochen spitz unter der Haut, die Rippen nachzählbar und dürr, fast krallenhaft die Hände, auf dem Kopf Eimer, klobige Holzschuhe an den Füßen, besenartige Wedel geschultert, stehen sie da, zwei groteske Engel, Totenwache haltend. „Der Himmel über Auschwitz war leer“, sagt ein anderer Künstler, der Auschwitz und Buchenwald überlebt hat, der Pole Jozéf Szajna, immer wieder. Kein Gott, keine Geschichtsteleologie, nichts Rettendes weit und breit, nur Menschen unter Menschen, Verfolger und Verfolgte, nur Einsamkeit, Abwesenheit, Verlust, d. h. Tod, der über sich nicht hinauskommt, weil der rassenbiologisch begründete Massenmord sich in die Bezugssysteme politischen, religiösen oder nationalen Märtyrertums nicht mehr rückbinden lässt. Auf diesen nackten, schieren Tod hin, der sein eigener gewesen wäre und der der seiner Mutter und seiner Schwester war, ist Luries Entrance ein Versuch des Abschieds und der Würdigung ohne Selbsttäuschung und voreilige, d.h. prästabilierte Tröstung im oben angedeuteten Sinn, ohne Selbsttäuschung und voreilige Tröstung, nicht für sich, nicht für uns, für niemand.

Es ist nur folgerichtig, dass Lurie nach dieser auch handwerklich hochrangigen Aufbietung ölmalereilicher, tafelbildlicher Mittel von der Tonintonmalerei des 19ten Jahrhunderts bis hin zum Surrealismus des 20ten seine Ausdrucksmittel radikalisiert. 1947 entsteht, einem Readymade des Radikalbösen gleich, die Arbeit Liste. (5)
1962 druckt er in Vergrößerung ein Photo nach, das einen Häftling nach der Befreiung im 1942/43 entstandenen sogenannten Kleinen Lager, einer besonderen Elends- und Sterbezone im KZ Buchenwald, zeigt, und nennt die Arbeit Happening by Adolf Hitler. (6)
Wahrscheinlich hat er bereits zuvor in selber Technik ein Photo von Magret Burke-White bearbeitet, das gestapelte Leichen auf der Ladefläche eines Anhängers im Hof des Krematoriums des KZ Buchenwald zeigt, so wie sie dort nach der Befreiung am 11. April 1945 von amerikanischen Soldaten gefunden worden waren. Flatcar Assemblage, 1945 by Adolf Hitler (7) lautet der bittere, nur vordergründig zynische, Titel, mit dem der Künstler Lurie seinen „Kollegen“ Hitler, den gescheiterten und dann so fürchterlich erfolgreichen Wiener Kunstaspirant und völkisch-antisemitischen Bohemien, würdigt und zugleich entlarvt. Kunst, Erinnerungskunst ist für Lurie jetzt gleichbedeutend mit Aufschrei und Konfrontation. Sie entsteht nun nicht mehr durch den Versuch, die anerkannten, gewissermaßen durch Tradition und Gewohnheit nobilitierten künstlerischen Mittel unter Aufbietung aller Kräfte auf den entsetzlichen Gegenstand der Lagerwirklichkeit zu übertragen, sondern sie entsteht ganz im Gegenteil dazu gerade durch deren bedachte und gezielte Reduktion sowie den damit verbundenen Rückgriff auf visuelle Fragmente aus dem Fundus massenkultureller Vergegenwärtigungen dieser Wirklichkeit, Zeitungsphotos zumeist. „Hier geht es Boris Lurie wie Art Spiegelmanns Vater (in dessen Auschwitz-Comic „Mouse“, V. K.): `Er kotzt Geschichte aus´“ schreibt Georg Bussmann, „und als Nachgeborener schaut man dem zu. Natürlich ist dies Zuschauen nicht alles. Aber es ist erst mal das Wichtigste, das, was die Arbeiten und einen selbst immer wieder an die Grenze bringt. Alles weitere ist dann der Versuch, sich mit Worten in eine `kritische´ Distanz und Fassung hineinzureden.“ (8)

Es ginge an den ästhetischen Intentionen Luries und der Eigengesetzlichkeit künstlerischer Reflexion vorbei, wollte man den oben umrissenen Umbruch im Werk Luries allein auf die Erfahrung der nationalsozialistischen Lager zurückführen, oder gar als unausweichliche Folge der damit verbundenen Traumatisierung verstehen. Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre hätte Lurie sich hinsichtlich seiner künstlerischen Zukunft auch anders entscheiden können. Denn bereits ab 1947 entstanden auch - teils sehr großformatige - abstrakte Arbeiten, die formal an Léger manchmal auch an Matisse zu erinnern vermögen. In Bezug auf diese hieß es am 15. Mai 1952 in der New York Times: „The current show of paintings at the Hotel Barbizon Plaza contains a wide variety of work, all by one artist, Boris Lurie. His style is totally abstract though tempered at moments with visual reminisence, and he will jump from small water-color of the slow stain variety to a huge canvas that must be 15 by 10 feet and is filled with capering geometrical shapes. Color is restricted to a small number of pure tones emphasizing their strong contrasts, and forms are everywhere decisive.“ Das dem Artikel hinzugefügte Photo zeigt den achtundzwanzigjährigen Lurie im Jackett vor der „Composition, 1952“, die im Bildtext als „a high point of interest“ qualifiziert wird. Zugleich wird darauf aufmerksam gemacht, dass Lurie bereits mehrere Einzelausstellungen gehabt hat. Über dieses Photo von 1952 wären keine Worte zu verlieren, zeigte es Lurie nicht genau jenem Rollenvorbild gemäß, dem öffentlich nachzukommen er sich bereits wenig später entschieden verweigert, dem des modernen, avantgardistischen, nachkriegsintellektuellen Ostküstenkünstlers nämlich, der Eigenwilligkeit und gesellschaftlichen Erfolg zu kombinieren weiß. Die Namen Jasper Johns oder Jackson Pollock ließen sich in der Perspektive Luries als Chiffren für diesen Typ lesen.

Befragt man Boris Lurie oder die von ihm verfassten autobiographischen bzw. kunst- und gesellschaftsreflektierenden Texte darauf hin, was ihn veranlasst hat, den Weg, den das Photo suggeriert, nicht einzuschlagen, dann erhält man vier Antworten: die der Konsumgesellschaft innewohnende Sinnlosigkeit, die Ökonomisierung der Kunst in deren Kontext, die symbiotische Verbindung von Avantgardekünstlern, Galeristen und anlageorientierten Sammlern sowie deren Rückwirkung auf das öffentliche Verständnis von „guter Kunst“ und „guten Künstlern“ und schließlich die Verschneidung von Pop-Art und us-amerikanischem Geltungs- und Überlegenheitsbewusstsein sowohl in nationalpolitischer wie in kultureller Hinsicht. (9)

NO!art ist die direkte Antwort auf diese kunst- und gesellschaftskritische Diagnose. Sie bedeutet den Versuch, Kunst gleichsam vor der Kunst zu bergen im auf den ersten Blick Unschönen, Hässlichen, Obszönen, sowohl auf der Ebene des Materials, wie der Form, wie des Inhalts. „Wo ist die große künstlerische Tat? Nicht unbedingt, kaum, selten in der sogenannten Kunst. Die `Kunst´ versteckt sich außerhalb.” (10)

Für Lurie hat dieses Verständnis der NO!art von Kunst, das unschwer erkennbar in romantischer Tradition steht, handfeste praktische Folgen. Erstens weigert er sich — bis heute —, seine Arbeiten dem Markt preiszugeben, d. h. von ihrem Verkauf zu leben, und lebt fortan von Börsenspekulationen. Kunst ist Kunst, Geld ist Geld, Aktien sind Aktien. Die Amalgamierung von Kunst und Geschäft ist Verrat an der Kunst. Seine Fragen lauten: „Soll man Kunstproduktion überhaupt ausstellen? … Der zweite Punkt ist, ob man Werke überhaupt verkaufen soll? … Der dritte Punkt ist der, ob man überhaupt mit dem Kunstmachen angesichts der Vorgänge in der Kunstwelt und der Welt fortfahren soll.“ (11) Sein Fazit in einem Dreizeiler vom 3. April 1999: „Neues Gesetz der Ökonomie: Alles, was verkauft wird, geht verloren.“ (12)

Zweitens versteht er künstlerisches Arbeiten ab Mitte der fünfziger Jahre zunehmend als gruppenschöpferischen Prozess, als — im doppelten Wortsinn — Hervorbringung eines Netzwerkes von gleichdenkenden Künstlerfreunden, die mit ganz unterschiedlichen Mitteln NO!art erzeugen und dadurch in nuce eine Gegenwelt zur schlechten Faktizität kreieren. Die intensive Zusammenarbeit mit Stanley Fischer und Sam Goodman, mit denen er 1959 die „March Group“ gründete, stehen hierfür ebenso, wie die von ihm getroffene Auswahl von Arbeiten von Freunden, die, obwohl sie in der Gedenkstätte nicht ausgestellt waren, für ihn unabdingbar in diesen Band gehörten. Drittens richtet sich seine Hoffnung darauf, Kunst im nicht affirmativen, im nicht warenförmigen Sinn möge von den Randständigen, den sich dem Mainstream verweigernden, den selbstbewussten Außenseitern und Ausgeschlossenen der Gesellschaft bewahrt werden. Lurie spricht vom Lumpenproletariat.

Es hieße die Bedeutung dieses Begriffs bei Lurie entschieden verkürzen, wenn man in ihm nichts als einen naiven Abkömmling postmarxistischer Suche nach dem revolutionären gesellschaftlichen Subjekt sehen wollte, wie sie nach 1968 auch in der Bundesrepublik im Phänomen der Randgruppenbewegung zum Ausdruck kam. Wenn Lurie vom Lumpenproletariat bzw. vom Lumpenproletarischen als Subjekt der Kunst spricht, dann hat dies bei allem Schillernden zumindest zwei Bedeutungen. Zum einen meint er damit soziale und künstlerische Milieus, die sich mit der Rolle kulturbetriebsgeduldeter oder sogar erwünschter Narren nicht zufrieden geben, noch diese Rolle mit wirklicher Avantgarde verwechseln. „Es kommen Horden von Aspiranten ins Mekka Soho und Lower East Side (…) Galerien blühen auf und verblühen massenweise. Der neugeborene Künstler mag es, fast wie ein Pop-Music-Star angesehen zu werden. Doch werden die Burschen und Mädels schlimm gequält. Die Lebenskosten sind sehr hoch: Man benötigt beinahe 800$ monatlich, um ein Atelier oder eine Wohnung in der Lower East Side zu mieten, und dann noch was zum Essen und für Kleidung und, ja, zum Entertainment. Ein Hamburger mit Coca-Cola kostet 5$ in den neuen Cafés, und die Kinder aus den Vorstädten sind es gewohnt, gut zu essen. Die kommen nicht nur in den üblichen Jeans und der schicken Armutsmode, die kommen samt ihren Caféhäusern, Boutiquen und Galerien. Die verweichlichte Beatles-Generation ist das Lumpenproletarische nicht gewohnt.“ (13)

Zum anderen — und in dieser auch in einigen der hier vorgelegten Gedichten durchschimmernden Auffassung kulminiert ein essentielles Element seiner Lebensgeschichte — steht Lumpenproletariat für die doppelt Verratenen, zwischen Hitler und Stalin ganz oder beinahe Zerriebenen der Gewaltgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, die in einer Ideologie, egal ob sie östlicher oder westlicher politischer Provenienz ist, sich nicht mehr beheimaten können. Was ihnen bleibt, ist der Eigensinn, für dem allerdings ein hoher Preis, nicht zuletzt in Form von existentieller Einsamkeit, zu zahlen ist. “Das Malertum kommt aus ´ner Büchse / von Konfekten / in das ist eingeschmolzen worden ein Davidstern-mit-Hammer-Sichel / unter versternten Hakenkreuzen.“ (14)

Das vierte Element der NO!art als Gegenentwurf ist, was die jüdischen Mitglieder des NO!art-Netzwerkes „Jew-Art“ genannt haben. „Jew Art“, nicht jewish art — dieser Begriff verwiese auf eine ungebrochene ästhetische Tradition —, gründet in der Erfahrung von Auschwitz. D. h. mit Jaspers gesprochen, sie gründet in der Erfahrung, dass die absolute Aufkündigung der Grundsolidarität des Menschen mit dem Menschen als Mensch von Deutschland aus an den deutschen und europäischen Juden zur historischen Möglichkeit geworden ist, zur historischen Möglichkeit über die konkrete Geschichte des Nationalsozialismus hinaus. Diese Erfahrung, die als Erfahrung faktischer Entsicherung und Bodenlosigkeit menschlicher Beziehungen verstanden werden kann, verschließt sich auch dort, wo Kunst ihr Ausdruck zu geben versucht, jeder Deutung. Sie hätte sich allenfalls in situ und um den Preis des eigenen Lebens teilen lasen. „Jew Art“ will dementsprechend erst gar nicht interpretiert, sondern ertragen werden. Ihr Ziel ist nicht, ich habe es eingangs bereits gesagt, Sinnstiftung, sondern Konfrontation und Aussetzung. Nicht auf Mitleid zielt sie, sondern auf Erschrecken. Allenfalls lassen sich in den Worten Boris Luries die Pole angeben, zwischen denen „Jew Art“ oszilliert: „Wo sollen wir die Ängste / füllen / wenn Mutterknochen so zersplittert sind?“ — „Sag mir nur leise, / leise heuernd / Vogel, / hebend, / ich bin dir Kamerad.“ (15)

Was einen großen Teil der „Jew Art“ so schwer erträglich macht, ist die Verschneidung von Abbildern nationalsozialistischer Greuel mit Obszönem, Pornographischem. Pin-ups auf Leichenbergen erscheinen als nachträgliche Versündigung an der Würde der Opfer. Überdenkt man den ersten Affekt der Abwehr aber, wird deutlich, dass Lurie mit diesen Arbeiten ins Zentrum massenkultureller und massenmedialer Erinnerung trifft. Man blättere sich durch eine Nachkriegsillustrierte oder durch ein Magazin der Gegenwart, die Repräsentationen des Leides und der Grausamkeit vertragen sich gut mit denen des Sex, und beide zusammen fördern den Verkauf. Voyeurismus und Erinnerung der Unbetroffenen lassen sich wahrscheinlich nur schwer trennen, wohl aber läßt sich ihre Verbindung bewusst machen durch die Thematisierung ihrer Gleichzeitigkeit.

Wahrscheinlich verkürzt man Lurie, wenn man Arbeiten wie Railroad Collage (16) 1963 oder Saturation Painting (Buchenwald) (17) 1959-64 in diesem Sinne ausschließlich als Rezeptionskritik versteht. Wahrscheinlich wird man sich den kulturkritischen Gedanken — und Lurie wäre nicht der erste, der ihn formuliert — zumuten müssen, dass das Begehren sich sowohl durch den Eros wie mittels Gewalttätigkeit realisieren kann. Wahrscheinlich wird man sich den Gedanken zumuten müssen, daß Lurie auf seine ganz eigene, schroffe Weise auch Liebessehnsucht Ausdruck gibt. Die melodiöse Rhythmik seiner Collagen, gerade seiner sehr großformatigen, scheint mir durch alles Schreckliche und Obszöne auf ihrer Oberfläche, hierfür zu stehen. Empörung jedenfalls wird diesen Arbeiten ebenso wenig gerecht wie ihre Feier als antiautoritärer Befreiungsschlag oder Aufsprengung vordergründiger political correctness der Gedenkkultur. Folgt man Lurie, dann bleibt der Judenstern ein Ehrenzeichen und ein Stein am Halse (18) und „Jew Art“ eine Last, die getragen werden will. (19)

Das Zwiegespräch mit Boris Lurie zur Vorbereitung der Buchenwalder Ausstellung begann, unterstützt von seinen Freunden Eckhart Holzboog und Dietmar Kirves, im Jahr 1997. Medium des Gesprächs war das Faxgerät, das Nähe und Distanz ebenso garantierte wie Unmittelbarkeit und prüfendes Annähern. Eines Tages kam statt eines gewöhnlichen Briefes ein Gedicht durch den Draht, in dem ich die eigentliche Zusage Luries gesehen habe, sich auf eine Ausstellung in Buchenwald einzulassen und das zugleich vermittelte, dass er neben dem Bildermachen immer auch — und gerade je konkreter das Ausstellungsprojekt wurde — geschrieben habe. Schließlich hat Lurie dann vorgeschlagen, statt eines gewöhnlichen Kataloges dieses „Geschriebigte“ und „Gedichtigte“ zu veröffentlichen, in gotischen Lettern gesetzt und kombiniert mit Abbildern der in Buchenwald gezeigten Arbeiten und Arbeiten seiner Freunde. Dietmar Kirves sollte — und hat — das Buch gestaltet. Eckhart Holzboog sollte — und hat — es verlegt. Alle Gedichte sind Erstveröffentlichungen, die in das immer routinierter und glatter werdende Gedächtnissprechen einen rauen, ganz eigensinnigen, man könnte sagen, buchstäblich ungeschliffenen Ton hineinbringen, wie mit einer Zunge von Sandpapier gesprochen. „Was mir im Blut steckt“, vermerkt Lurie, „ist die baltendeutsche Sprache (die heute fast niemand mehr spricht), die gehört zu mir, obwohl ich sie nach dem Krieg vergessen wollte und was mir beinahe gelungen wäre. Sie ist in meinem deutschen (russisch-jüdischen) Blutkreislauf. Deshalb bekomme ich jetzt so einen `Kick´, nun in meinem Himmeldeutsch zu schreiben! Wartet nur ab, bis ich im entkleideten Reichstag auf Deutsch, dann neben meinem guten Onkel Hitler, Reden halte.“ (20)

Quellen

1 Boris Lurie & Seymour Krim: NO!art, Pin-Ups, Excrement, Protest, Jew-Art, Köln 1988.
2 Boris Lurie, 2003, S. 419
3 Boris Lurie, 2003, S. 6.
4 Boris Lurie, 2003, S. 2
5 Boris Lurie, 2003, S. 22
6 Boris Lurie, 2003, S. 10
7 Boris Lurie, 2003, S. 12
Georg Bussmann: Jew-Art, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin (Hg.): NO!art, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst und dem Haus am Kleistpark, Berlin, 21. Oktober bis 26. November 1995, S. 61 – 65, hier S. 63.
Boris Lurie: Anmerkungen zu Kunst und Leben, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin (Hg.), NO!art, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst und dem Haus am Kleistpark, Berlin, 21. Oktober bis 26. November 1995, S. 119 - 128.
10 Ebenda, S. 123
11 Ebenda, S. 128
12 Lurie, 2003, S. 317
13 NO!, NGBK-Katalog, Berlin 1995, S. 119
14 Lurie 2003, S. 210
15 Lurie 2003, S. 221
16 Lurie 2003, S. 158
17 Lurie 2003, S. 167
18 Lurie 2003, S. 8
19 Lurie 2003, S. XXIV
20 NO!, NGBK-Katalog, 1995, S. 120

(Volkhard Knigge: „ …obwohl ich Goethe leider nicht gelesen habe, doch von Hitler viel zu spüren bekam.“ In: Boris Lurie: Geschriebigtes Gedichtigtes. Zu der Ausstellung in der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald, Stuttgart, 2003, S. VII – XV)

Volkhard Knigge (*1954) ist Historiker und Geschichtsdidaktiker. Er war Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.