Theaterkasse
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von Mehdi Moradpour und Linda Lummer
In „Das Erbe“ zeichnet der Autor Nuran David Calis ein emotionales Porträt einer türkischstämmigen Familie vor dem Hintergrund des aufgeheizten politischen Klimas der Neunziger Jahre.
Nazik Doğan und ihre drei Kinder trauern um den verstorbenen Familienvater Murat. Mitten in ihre Trauer platzt am 23.11.1992 die Nachricht von den rassistischen Brandanschlägen in Mölln. Zutiefst verunsichert durch die rechtsextremen Gewalttaten zerbricht die Familie an der Frage, wo und wie sie weiterleben und wie sie die erfolgreiche Firmengruppe des Vaters weiterführen soll.
In der Nacht auf den 23.11.1992 warfen zwei Neonazis, Lars C. und Michael P., Brandsätze auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln – zunächst in der Ratzeburger Straße 13 und im Anschluss in der Mühlenstraße 9. Bei beiden Anschlägen kam es zu Schwerverletzten, darüber hinaus forderte der zweite Anschlag drei Todesopfer: Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz.
Die Familie Doğan gilt als Sinnbild gelungener deutscher Integration. Von den bescheidenen Anfängen der Eltern als Gastarbeitende bis hin zur Gründung ihres Unternehmens Doğan Logistik Group, das jährlich Milliardenumsätze macht, wird die Familie als Paradebeispiel für einen erfolgreichen sozialen Aufstieg gesehen. Nun jedoch ist der Vater Murat verstorben, die Familie gespalten, die Zukunft des Unternehmens ungewiss. Das Aufeinandertreffen der Geschwister Arzu, Leyla und Halil und deren Mutter Nazik kurz vor der Testamentseröffnung gewährt einen schonungslosen Blick hinter die Kulissen dieser augenscheinlichen Erfolgsgeschichte: auf eine Familie, gefangen zwischen Entfremdung und Trauer; unfähig, die Last an Unausgesprochenem zu tragen. Der Frust steigt, damit aber auch die Hilflosigkeit, die Risse in ihren Beziehungen zu kitten. Die Ereignisse in Mölln erschüttern die Familie und werfen die Fragen nach Zugehörigkeit, Selbstbestimmung, Identität und Sicherheit auf.
Obgleich die Gewalttaten gegen Asylsuchende und Migrant:innen das kollektive migrantische Bewusstsein prägen, wirken sie in der offiziellen deutschen Erinnerungskultur oftmals wie eine Randnotiz. In den Neunzigerjahren kam es in Deutschland zu Hunderten von rechtsextremen Gewalttaten gegenüber Gastarbeiterenden und Geflüchteten: Hoyerswerda (1991), Hünxe (1991), Rostock-Lichtenhagen (1992), Solingen (1993) – nur um einige zu nennen. Dabei stellt sich die Frage: Welches Erbe birgt dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte und wie wird daran erinnert?
Bei der Erwähnung der NSU-Mordserie kommt oftmals der Name Beate Zschäpe in den Sinn. Die Namen Enver Şimşek, Süleyman Taşköprü, Theodoros Boulgarides, Habil Kılıç oder Michèle Kiesewetter geraten in Vergessenheit – oder, im Falle von Mölln, İbrahim Arslan, der die rassistischen Brandanschläge überlebte. Die Namen der Opfer rücken in den Hintergrund, ebenso wie ihre Schicksale, ihre Sprachen oder der Beitrag, den sie zur gesellschaftlichen Vielfalt geleistet haben. Zurück bleibt die Grausamkeit der Tat und die Zurschaustellung der Täter:innen in vielen Aspekten – von der familiären Hintergrundgeschichte bis hin zur Analyse ihrer Tatmotive.
Für die Betroffenen und Hinterbliebenen sind diese Geschehnisse ein unwiderruflicher Teil ihrer Biografie geworden. Die Opfer müssen Gehör finden, sichere Räume, in denen sie ihre Gewalterfahrungen verarbeiten können. Die Relativierung der Erfahrungen von Minderheiten begünstigt eine eindimensionale Auffassung geschichtlicher Ereignisse und erschwert den kollektiven Verarbeitungsprozess. Erinnerungstraditionen bereichern sich durch regen Austausch, Gegenüberstellungen und Wiederholungen. Nur unter Berücksichtigung unterschiedlicher Sichtweisen auf das Vergangene wird es möglich sein, sich einer Erinnerungskultur für eine diverse Gesellschaft anzunähern.
Linda Lummer
Ehefrau, Mutter, sogenannte Gastarbeiterin – und am 23.11.1992 eine von drei Todesopfer des rechtsextremen Brandanschlages in Mölln. 1967 folgte die damals 26-jährige einer Anwerbung nach Deutschland, einige Jahre später kamen ihr Mann und ihre Söhne nach. In dieser Zeit arbeitete sie unter anderem als Erntehelferin oder half in Gastronomiebetrieben aus, bis sie schließlich auch als Kleinunternehmerin tätig wurde. 25 Jahre lang lebte sie in Deutschland, gebar eine Tochter und wurde Großmutter. Nun liegen sie, ihre Enkelin Yeliz und deren Cousine Ayşe in Çarşamba in der Türkei begraben. Sie wurde 51 Jahre alt, die beiden Mädchen nur 10 und 14.
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