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MK:

„Wir wollen uns dort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht.“

Eröffnungsvortag von A. L. Kennedy
Übersetzung von Ingo Herzke

»Wir wollen uns dort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht.«

– Winston Smith (in George Orwells „1984“)

Wie schaffen wir einen Ort ohne Schatten, ohne Dunkelheit? Nun, idealerweise würden wir nicht hier anfangen … Aber wir sind nun mal hier. Wir müssen unsere Kinder und unsere Erwachsenen bilden – wir alle müssen mehr darüber wissen, wie Lügen und Manipulation funktionieren und wie man sich im Internet schützt. Wir müssen über grundlegende psychologische Kenntnisse verfügen. Öffentliche Bildung war Teil des Widerstands gegen den Faschismus – es ist kein Zufall, dass Extremisten die Bildung der Massen hassen, Geschichte hassen, dass sie es hassen, anderen Menschen Macht, Fähigkeiten und Strategien an die Hand zu geben. Unsere Bildung darf Kreativität, Kunst und emotionale Kompetenz nicht ausklammern. Auch hier gilt: Die Extremisten hassen Kultur- und Geisteswissenschaften aus gutem Grund – durch sie können wir uns selbst in der Tiefe kennenlernen, uns gegenseitig kennenlernen, sie helfen uns zu ertragen, sie helfen uns, der Dunkelheit zu widerstehen, ohne selbst dunkel zu werden. Und wir müssen nicht nur über Fremde, sondern von ihnen lernen. Unsere Außenseiter – die Armen, die besser haushalten können als Milliardäre, die Unterdrückten, die wissen, was Beharrlichkeit und Geduld bedeuten, die Überlebenden eines Völkermords, die den Wert des menschlichen Lebens verstehen, und die Überlebenden kultureller Unterdrückung, die wissen, warum Kultur wichtig ist.

Und wir brauchen Aufsicht und Kontrolle auf allen Ebenen. Wir verfügen bereits über internationale Strukturen zur Durchsetzung von moralischen Normen und Menschenrechtsgesetzen – aber wir machen Kompromisse, Kompromisse, Kompromisse. Neue Energiequellen und -technologien geben uns die Chance, den Freifahrtschein zu beseitigen, den bösartige Regime derzeit erhalten, nur weil sie auf fossilen Brennstoffreserven oder wertvollen Mineralien sitzen. Und mit Kontrolle könnten wir diejenigen richtig prüfen, denen wir Macht verleihen, könnten den Einfluss von Pressebaronen und Milliardären, von zweifelhaften Thinktanks, Schwarzgeldströmen und Spionagenetzen begrenzen. Niemand will Pressezensur oder Internetzensur – aber wir brauchen eine Qualitätskontrolle. Was unsere Medien berichten, muss wahr sein. Was unsere Politiker sagen, muss wahr sein. Was unsere Meinungsmacher sagen, muss wahr sein. Was KI sagt, muss wahr sein. Wir brauchen eine realitätsbasierte Realität. Wir brauchen international vereinbarte und durchgesetzte Online-Standards – schwer zu vereinbaren, aber eine Frage von Leben und Tod. Wir müssen etwas Besseres verlangen als den Status Quo.

Es gibt so viel zu tun – ich weiß. Wo sollen wir anfangen? Tun wir das, was wir jetzt tun können. Vielleicht mit einem Nachbarn reden, vielleicht weniger aggressiv Autofahren, weniger im Internet surfen – auf jeden Fall wählen gehen, demonstrieren, Druck auf die Regierenden ausüben, die Regierenden wechseln. Ein massiver Rechtsruck in den USA hatte erschreckende, fatale Auswirkungen – er hat die Demokratie aber auch auf allen Ebenen belebt und Menschen, die nie für ein Amt kandidiert hätten, dazu gebracht, sich wählen zu lassen. Die Demokratie ist langsam – aber wir dürfen sie nicht unterschätzen. Sie ist nur dort “gescheitert”, wo wir sie vernachlässigt haben, wo die Wähler abgestumpft oder so unzureichend gebildet waren, oder so irregeführt und manipuliert wurden, dass die Gegner der Demokratie in der Lage waren, einflussreiche Positionen innerhalb der demokratischen Institutionen zu übernehmen – und sie dann zu untergraben. Und sich an der Grausamkeit dessen, was sie tun, um ihrer selbst willen erfreuen, um des Schmerzes, der Wut, der Angst und des Hasses willen, den sie in der Bevölkerung erzeugen. Die rücksichtslose Politik der Strafverfolgungsbehörden, die Beeinflussung des Militärs durch die extreme Rechte – das hat zu Gegenmaßnahmen, Reformen, neuen Einstellungskriterien und mehr Kontrolle geführt. Aber es gibt immer noch mehr zu tun.

Während sich der derzeitige grausige Zug der räuberischen Gier und des Verfalls weiter windet, erinnere ich mich an die Worte von Max Lieberman: “Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte”, sagte er, als er am 30. Januar 1933 zusah, wie der Faschismus sich selbst feierte und an seinem Haus vorbeimarschierte, durch das Brandenburger Tor zur Macht. Fotos der Parade zeigen Trommeln – die den Herzschlag stören und stehlen – und Reih und Glied und Uniformen, performative Männlichkeit, kleine Scheinwerfer und eine große, gähnende Dunkelheit. “Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.”

Aber was, wenn wir eine Welt schaffen könnten, in der jeder so werden und sich so ausdrücken kann, wie er ist? Wenn wir darauf vertrauten, dass die meisten Menschen keine Ungeheuer sind? Wenn wir keine Angst hätten, dass zu viele Stimmen unsere eigenen übertönen könnten, dass zu viel Glück für andere bedeuten könnte, dass es weniger für uns gibt? Denn Glück vermehrt sich selbst – wie Liebe. Was wäre, wenn wir aus Liebe schaffen würden?

Ich weiß, auch in Deutschland hat der Anteil der Menschen, die sich nach Herrschaft sehnen, nach Extremität, Gewalt, Gift – nach dem Faschismus, der in Variationen von Scheiße und Tod endet –, ein wenig zugenommen. Es ist immer noch ein kleiner Anteil – erstaunlich klein angesichts der Kräfte, die schädlichen Einfluss ausüben. Aber jeder Prozentsatz ist schädlich, verursacht Schaden – und Gesellschaften können Kipppunkte erreichen, lange bevor die Mehrheit sie erreicht.

Ich komme immer wieder auf M. Scott Pecks sehr praktische Definition von Liebe zurück: “Liebe ist der Wille, sich selbst zu erweitern, um das das eigene spirituelle Wachstum oder das eines anderen Menschen zu fördern … Liebe ist, was Liebe tut. Liebe ist ein Akt des Willens – nämlich sowohl eine Absicht als auch eine Handlung. Wille impliziert auch Wahl. Wir müssen nicht lieben. Wir wählen zu lieben.” Dies ist natürlich auch eine Definition von Kunst. In einer gesunden und nachhaltigen Welt muss dies die Definition all unseres Schaffens sein.

Wir dürfen nicht verzweifeln – uns fehlt die Zeit zu verzweifeln. Und wir sind Menschen, die in einer Art funktionierender Demokratie leben, nicht unterdrückt, mit Handlungsspielraum – es wäre maßlos und selbstsüchtig von uns, zu verzweifeln. Wir haben Prinzipien, die uns leiten können, wir müssen handeln. Liebe ist ein Verb, etwas, das wir tun, etwas, an dem wir uns messen – sie ist kein Artefakt, keine Theorie, kein Konzept, kein Besitz, keine Bedrohung, keine Vergleichsmöglichkeit, kein Luxus. Sie ist eine Lebensweise. Sie wird für mich schwer durchzuhalten sein, wie für viele von uns. Aber sie wird auch schön und nützlich sein, und sie kann uns und die Welt retten. Wir können so handeln, als ob wir das verdienen würden, und vielleicht verdienen wir es am Ende auch.