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MK:

Digitales Programmheft "Green Corridors / Зелені коридори"

Als „grüne Korridore“ wurden seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine zivile Fluchtkorridore für Menschen bezeichnet, um umkämpfte Gebiete zu verlassen. In ihrem Auftragswerk für die Münchner Kammerspiele, das Natalka Vorozhbyt inspiriert von eigenen Erlebnissen auf der Flucht geschrieben hat, machen sich 4 Frauen aus Charkiw, Tschernihiw, Butscha und Kyjiw auf den Weg nach Europa. Sie alle sind Zeuginnen von Zerstörung, Vergewaltigung und Tod, bis auf eine der Frauen, die ist Schauspielerin und hat nichts Schreckliches erlebt, – kann aber alles spielen. An der zentralen Figur der Schauspielerin entfaltet Vorozhbyt viele Konflikte, die innerhalb der Gruppe der Geflüchteten aufbrechen: Ist sie etwas Besseres, weil sie gar nicht auf der Flucht ist, sondern nur unterwegs zum nächsten Projekt? Ist sie eine Verräterin, weil sie jahrelang in gut bezahlten russischen Serien mitgespielt hat? Ist sie eine Opportunistin und Ignorantin, weil sie traumatisierten Mitgeflüchteten aufdrängt, endlich zu Bewerbungsgesprächen zu gehen oder sich durch kostenlose Kulturangebote weiterzubilden? Sieben Mal wird die Schauspielerin im Laufe des Stückes von ihren Mitreisenden symbolisch zur Strecke gebracht, sieben Mal muss sie büßen für unerträgliche Zumutungen, sieben Tode stirbt die Kunst in Zeiten des Krieges!

Mit unnachahmlich schwarzem Humor portraitiert Vorozhbyt die Menschen im Transit, gestrandet in der „Wartezone Europa“. Sie zeigt ihre Nöte und Kämpfe, wo sie lügen, etwas verstecken oder von guten und bösen Geistern der Vergangenheit heimgesucht werden.

Zu den „Geistern“, die auch uns, die Zuschauenden in diesem Stück heimsuchen, gehören wiederum drei höchst unterschiedliche Figuren der ukrainischen Geschichte, die alle von der Schauspielerin aus Kyjiw verkörpert werden. Wir begegnen ihnen im Rahmen von Dreharbeiten, bei denen jeweils heiße Diskussionen aufbrechen, wie die ukrainische Geschichte vielleicht anders hätte verlaufen können und wie das Erbe der Personen zu bewerten ist. Alle drei Figuren begegnen uns im letzten Moment vor ihrem Tod, den sie wissend in Kauf nehmen: Die Dichterin Olena Teliha entgeht 1942 nicht ihrer Erschießung durch die Nazis, der Nationalistenführer Stepan Bandera entgeht nicht seiner Ermordung durch den KGB 1959 in München, und Mykola Leontowytsch, der Komponist der weltberühmten Weihnachtshymne „Schtschedryk“, entgeht 1921 nicht den Häschern des sowjetischen Geheimdienstes. Einige dieser Figuren sind in ihrer historischen Bewertung höchst umstritten und tauchen im Stück auch genau als solche auf: nicht als feststehende Größen, sondern streitbar, als Ausgangspunkt von Debatten unter Ukrainern oder als Diskussionsstoff zwischen Europäern und Ukrainern.

Natalka Vorozhbyt hält sich für gewöhnlich nicht mit historischen (Anti)Helden auf, sondern schaut auf den Alltag völlig normaler Menschen, greift dokumentarische Begebenheiten auf und fabuliert sie weiter, überhöht und verdichtet sie zu Bildern mit mythischen Kräften. Die Geschichte der Ukraine erzählt sie bis zur bitteren Gegenwart als eine Folge von Unterdrückung und Gewalt, einem Kreislauf von Trauma, der kaum zu durchbrechen war. Aber dann lässt sie im Verlauf ihrer Geschichte in „Green Corridors“ magische Kräfte entstehen, die in einer Mischung aus Wut, Solidarität und fantastischer Hexerei für alle Figuren, inklusive einer eher zweifelhaften “Europäerin”, einen Rückweg in die Ukraine ermöglichen.

Die Geschichte der “Nageldesignerin aus Butscha” endet damit, dass sie zurückkehrt und trotz ihrer durch die Vergewaltigung entstandenen Schwangerschaft ein ukrainisches Kind gebären wird. Vorozhbyt erfindet diese Figur in Anlehnung an das berüchtigte Medienfoto vom 5.3.2022, auf der man eine manikürte Hand am Boden liegen sieht. Die Leiche von Irina F. wurde anhand dieses Fotos von ihrer Kosmetikerin identifiziert. Vorozhbyt spinnt die Geschichte dieser Kosmetikerin mit der Figur der „Nageldesignerin“ weiter und schenkt ihr ein ermutigendes Ende.

Die Geschichte der “Hausfrau aus Charkiw”, die ihren Mann im Krieg verliert, endet hier damit, dass sie ihn endlich beerdigen kann, und mit einem Sarg in die Ukraine zurückkehrt. Und die Schauspielerin, die sich abgekämpft hat an europäischer Ignoranz und dem Desinteresse ihrer Landsleute, die um Haltung ringt trotz aller komplexen Fragen, transportiert schließlich eine „Supercraft“ als humanitäre Hilfe zurück in die Heimat.

Natalka Vorozhbyt hält nicht nur ihren Landsleuten, sondern auch den Europäer*innen in „Green Corridors“ einen Spiegel vor. Ob auf dem Sozialamt, als Filmproduzentin oder als Arzt: Alle verheddern sich in ihrem Helfen-wollen, haben den Krieg nicht verursacht und wollen auch nicht, dass er sie in ihrem eigenen Frieden stört. “Wir in Europa haben keinen Krieg nötig”, hört man sinngemäß eine europäische Produzentin sagen.

Was tun, wenn man ohne die Vergangenheit die Gegenwart nicht verstehen kann – aber mit Vergangenheit erst recht nicht? Die Schauspielerin macht einfach weiter: “Ich bereite mich auf die nächste Szene vor”…

In dieser Theaterproduktion wird größtenteils Ukrainisch und Deutsch gesprochen. Das ist für uns einerseits ein Statement, andererseits wird die Mehrsprachigkeit zur inhaltlichen Ebene: Die Figuren kommen aus der Ukraine im Westen an und beginnen langsam Deutsch zu sprechen. Je nach Figur haben wir unterschiedlich entschieden, wie sie mit Sprache umgehen kann. Die Schauspielerin kann sich als vermeintliche „Weltbürgerin“ fließend in Ukrainisch, Deutsch, Englisch und Französisch verständigen und ist dadurch oft in einer überlegenen Position. Natalka Vorozhbyt verwendet im Stück einige Passagen Russisch und fokussiert damit das Thema, dass sich für viele Ukrainer*innen stellt: Können und wollen wir diese Sprache, die oft eine der Muttersprachen ist, noch weitersprechen? Das Stück scheut keinen Konflikt um Sprache und Ausweisdokumente, keine Groteske um Cancel-Culture und Waffenlieferungen.

Viola Hasselberg

Natalka Vorozhbyt ist eine ukrainische Dramatikerin und Drehbuchautorin. Ihre Stücke wurden in vielen ukrainischen Theatern, in Deutschland, Großbritannien, Polen, den USA und Lettland aufgeführt. Weiterhin arbeitete sie mit der Royal Shakespeare Company zusammen. Im Jahr 2004 erhielt sie den Literaturpreis „Eureka“ für das Stück „Galka Motalko“. 2020 erhielt sie den Preis des Filmclubs Verona für den Film „Bad Roads“ sowie den „Film Circle - Opening of the Year“ Award. Außerdem bekam sie 2020 den “Women in Arts Award” für ihren Beitrag zur Film- und Theaterindustrie. 2021 erhielt sie den “Oleksandr-Dovzhenko-Staatspreis” der Ukraine für ihren herausragenden Beitrag zur Entwicklung des ukrainischen Kinos. „Green Corridors“ entstand im Dialog mit der Autorin, ausgehend von der „Sisterhood München – Kyjiw“, einer Partnerschaft, die die Kammerspiele 2020 initiiert haben.

Jan-Christoph Gockel ist Theater- und Filmregisseur und Teil der künstlerischen Leitung der Münchner Kammerspiele. Im Zentrum seiner Inszenierungen stehen meist politische Fragestellungen. Wie kaum ein anderer Regisseur verbindet er dabei Politik mit Poesie: Oft treffen in seinen Arbeiten Puppen, Schauspieler*innen, Musik und dokumentarisches Material aufeinander. Als Hausregisseur prägt er das Bild der Kammerspiele als Theater, das Landes- und Genregrenzen überschreitet, mit. Als internationale Zusammenarbeiten mit westafrikanischen Künstler*innen brachte er „’Wir Schwarzen müssen zusammenhalten’ – Eine Erwiderung” heraus, sowie die Produktion „Les statues rêvent aussi. Vision einer Rückkehr“, die simultan in München und einer West-afrikanischen Stadt zu sehen ist.

Oksana Lemishka hat als Soziologin die Entstehung von „Green Corridors“ sowie die Proben intensiv begleitet. Im Gespräch mit der Dramaturgin Viola Hasselberg erzählt sie, warum sie beim ersten Lesen des Stücktextes intuitiv alles zu einer „positiveren Version“ korrigieren wollte und warum dieser Text für sie besonders wertvoll ist.

Die Autorin Natalka Vorozhbyt erzählt im Gespräch mit der Dramaturgin Viola Hasselberg, über ihre Erfahrung, ein Stück über den Krieg im Krieg zu schreiben: „Ich schreibe über Missverständnisse und unterschiedliche Wahrnehmungen, unsere von Europa, die europäische von uns, über Post-Trauma, über die unzerstörbare Natur des Menschen, der sich aggressiv und kleinlich oder unerwartet edel zeigen kann. Warum kehren viele von uns aus Gebieten des Friedens und der Sicherheit in die Kriegszone zurück?

Für diese Produktion haben sich vier besondere Künstlerinnen aus der Ukraine als Gäste an den Münchner Kammerspielen verpflichtet. Welche Gedanken haben Sie während dieser ungewöhnlichen Arbeit begleitet? Lesen Sie hier ihre persönlichen Antworten und Informationen zu den Biografien der Künstlerinnen.

Drei völlig unterschiedliche historische Schlüsselfiguren mit ihren Konflikten aus den Jahren 1921, 1942 und 1959 tauchen in Natalka Vorozhbyts Stück auf: Olena Teliha (Autorin und Aktivistin), Stepan Bandera (Führer der Ukrainischen Nationalisten) und Mykola Leontowytsch (Komponist).  Alle haben existentielle Erfahrungen mit dem (Über)leben im Exil. Finden Sie hier kurze Hintergrundinformationen.

Ein fast vergessener Krieg im Osten der Ukraine: Stanislaw Assejew ist Journalist und Augenzeuge, der zwischen 2015 und 2017 in seinen Texten für Radio Liberty festhält, was vor sich geht im Donbass, in diesem Teil Europas, in dieser Gegend, die Russland und seine Freunde vor Ort gern als das “märchenhafte Neurussland” bezeichnen. Den Autor treibt bereits lange vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine die Frage um: “Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen?”, er beschreibt und reflektiert das Leben der Menschen im Krieg, ihr Verhalten, ihre Einstellungen. Diese Texte haben ihn im Donbass ins Gefängnis gebracht. Lesen Sie hier zwei Auszüge aus dem eindrucksvollen Buch, das jetzt mit Unterstützung des PEN Zentrums der Ukraine zum ersten Mal auf Deutsch erscheinen konnte.

In seinem Artikel für die Süddeutsche Zeitung beschreibt Jörg Häntzschel eindrücklich, wie Russland die Kultur der Ukraine systematisch plündert und zerstört – ein Jahr nach Kriegsbeginn. Lesen Sie den vollständigen Text hier.

Am „Theater on Podol in Kyjiw“ entsteht zeitgleich eine erste Inszenierung von „Green Corridors“ in der Ukraine. Beide Produktionsteams sind in Kontakt. Hier geht es zur Website von „Green Corridors“ in Kyjiw.

Im Interview spricht Maksym Golenko, der Regisseur der Kyjiwer Inszenierung, über das Stück „Green Corridors“ und seine Bedeutung für das ukrainische Theater. Eine deutsche Übersetzung des Statements finden Sie HIER.