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November 2022

Wo kommen wir denn da hin? #1: Wenn jetzt alle einfach so WM glotzen

Erst kürzlich wurde bekannt: Die asiatischen Winterspiele des Jahres 2029 werden in der saudi-arabischen Wüste stattfinden. Zwar kann es in der bergigen Zielregion „Trojena“ im Winter doch recht kühl werden. Aber es gibt dort kein Wasser und folgerichtig auch weder Schnee noch Eis fürs Skifahren oder eine flotte Partie Curling. Ach ja, und auch Sportstätten, Unterkünfte und alle sonstigen Infrastrukturen sind bislang nicht mehr als eine Fata Morgana.

Erst kommt der Fußball, dann kommt die Moral
Trotz dieser vollends absurden Wetteraussichten werden sich die korrupten Sportfunktionäre nicht mehr irritieren lassen: „The games must go on“. Und zwar selbst dann, wenn es Tote geben sollte. Womit wir bei jener Sportveranstaltung wären, die unmittelbar ins Haus steht. Auch in Katar, dem Austragungsort der Fußball-WM, herrschen „mörderische“ Temperaturen. Die Arenen gleichen XXL-Kühlschränken, bei deren Bau etwa 15.000 Menschen unter sklavereiähnlichen Umständen zu Tode gekommen sind.
Da bekommt man leicht Gewissensbisse: Bin ich, wenn ich mich weigere, diese WM zu boykottieren, automatisch ein schlechter Mensch? Warum klebt sich derzeit eigentlich niemand aus Protest gegen diese WM mit Sekundenkleber auf der Straße oder an Fußballtoren fest? Was und wem genau würde es nützen, wenn wir alle weggucken? Und habe ich auch eine FFP2-Maske dabei, damit ich beim Public Viewing nicht sofort erkannt werde?

Glotzen mit Gewissen?
Die Frage nach dem Guten und Richtigen steht im Mittelpunkt allen ethischen Kopfzerbrechens. Das erste Problem ist allerdings: Das, was für mich selbst gut ist oder mich glücklich macht, muss nicht unbedingt das sein, was mit Blick auf andere richtig oder moralisch geboten ist. Umgekehrt gilt: Was moralisch richtig ist, kann spaßbefreit, frustrierend, anstrengend sein. Und das zweite Problem: Es gibt nicht „die“ moralisch finale Schiedsrichterentscheidung und auch keine Videobeweise, sondern immer nur unterschiedliche moralische Referees, die sich oftmals gar nicht einig sind und zwischen deren Anweisungen wir uns letztlich entscheiden müssen.
Gehen wir also von der Frage aus: Darf ich die WM glotzen? Oder muss ich sie boykottieren? In jeder x-beliebigen Einführung in die philosophische Ethik konkurrieren verschiedene Ansätze: „Tugendethik“, „Pflichtenethik“, „Utilitarismus“, „Kontraktualismus“ oder auch die „Ethik des Mitgefühls“. Dass die Kontrahenten nicht selten aneinander vorbeireden, liegt daran, dass man angesichts ein und desselben moralischen Problems auf ganz unterschiedliche, aber allesamt wichtige Aspekte dieses Problems schauen kann und diese Sichtweisen leider allesamt auch etwas „flexibel“ sind.

Anstöße von Weltklasse-Ethikern
Folgt man zum Beispiel der antiken Tugendethik, die vor allem auf Aristoteles zurückgeht, dann steht die Frage im Vordergrund: Was für ein Mensch will ich sein? Idealerweise doch ein Vorbild für andere. In diesem Fall: aufgeklärt, besonnen, charakterstark. Was würde ein tugendhafter Mensch beim Anpfiff tun? Klarer Fall: nicht glotzen! Oder vielleicht doch?
Die Pflichtenethik überlegt ganz anders. Der berühmte Kategorische Imperativ von Immanuel Kant lässt uns fragen: Was, wenn alle das täten? Auf die Spiele vor Ort und die Tatsache, dass die eigentlichen Verbrechen bereits geschehen sind, hätte ein Wegschauen keinen Einfluss mehr. Kant selbst hat zwar lieber Billard gespielt, aber er hätte nichts dagegen gehabt, wenn Sie vor dem Fernseher sitzen.
Der Utilitarismus ist strikt outputorientiert. Laut John Stuart Mill zählt allein der Nutzen, den eine größtmögliche Zahl von Betroffenen hätte. Realistisch betrachtet: Ihr persönliches Wegsehen nützt niemandem. Es hat nicht einmal Einfluss auf die Einschaltquote, die ja ganz anders gemessen wird. Ja, es ist sogar sinnvoll, dass Milliarden Menschen hinsehen und auf die Lage in Katar aufmerksam werden. Gut, sie könnten aufs Public Viewing verzichten, um Ihre „woken“ Mitmenschen nicht zu ärgern. Aber allein vor dem Fernseher, und niemand kriegt es mit? Kein Problem.

Kühler Kopf oder warmer Bauch?
Anders beim Kontraktualismus: Nach John Rawls etwa lässt sich die Moral als Ergebnis eines einhelligen Vertrags denken. Man stelle sich vor, alle Betroffenen säßen an einem Tisch und übten den Perspektivwechsel: die Zuschauerinnen und Zuschauer, Mannschaften, Funktionäre, aber auch ihre Kritikerinnen und Kritiker sowie vor allem: die vielen Opfer. Das Glotzen würde sicherlich als grobes Foulspiel, als Bruch mit diesem zivilisierenden Gesellschaftsvertrag geahndet.
Schließlich die Ethik des Mitgefühls: Man muss im moralischen Konfliktfall auf den Bauch hören, sich in das leidende Gegenüber einfühlen, sagt etwa Arthur Schopenhauer. Sicher, auch wer nicht zuschauen darf, wird ein wenig leiden. Die katarischen Scheichs und deren Werbekunden auch. Aber wiegt dies das Leiden der vielen Toten oder der vor Ort drangsalierten Homosexuellen und Frauen auf? Man muss schon ein sehr grober Klotz sein, wenn man da noch einschaltet.

Finale
Momentan steht es 3:2 fürs Nicht-Glotzen. Aber es sind noch ein paar Minuten zu spielen. Denn die WM beginnt erst in wenigen Tagen, da kann noch viel passieren. Eine persönliche Entscheidung zwischen diesen fünf ethischen Sichtweisen ist manchmal so tagesformabhängig wie die „Moral“ von Hansi Flicks Truppe. Es ist nicht zu erwarten, dass Ihnen der Trainer diese Entscheidung abnimmt. Es ist auch nicht zu hoffen, dass Sie der Entscheidung entkommen, indem Sie sich, wie mancher Spieler in den letzten Tagen, rasch noch eine Verletzung zuziehen. Sie müssen selbst entscheiden!
Oder aber Sie halten es mit Ex-Nationaltorhüter Toni Schumacher: „Doppelmoral im Fußball? Natürlich gibt es die! Doppelt hält immer besser.“

Arnd Pollmann

lehrt und forscht im Bereich der Praktischen Philosophie, vor allem auf den Gebieten der Ethik und Moralphilosophie, der Sozialphilosophie und der Politischen Philosophie der Menschenrechte. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin. 2022 ist im Suhrkamp Verlag von ihm erschienen: „Menschenrechte und Menschenwürde. Zur philosophischen Bedeutung eines revolutionären Projekts.“

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