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September 2020

Kommt auf die andere Seite der Scham!

Etymologisch befindet sich der Hass in der Hässlichkeit. Er beschreibt eine Abneigung, eine feindselige oder hasserfüllte Haltung Dingen oder Personen gegenüber. Manchmal ist die Rede von „Hass macht hässlich“ oder man glaubt, das Böse sei hässlich und deshalb zweifach hassenswert — innerlich und äußerlich. Die Philosophin Bettina Stangneth spricht von der „Schule des hässlichen Sehens“: Wenn das Bedürfnis nach moralischer Verurteilung Menschen markiert, um mit dem Finger auf sie zeigen zu können. Stangneth berichtet von physischer Verstümmelung als Markierung. Im europäischen Mittelalter hätte man „Missetätern“ die Nase abgeschnitten, um sie nachhaltig zu markieren. Gemäß der Erwartung: Wer Hässliches tut, hat hässlich auszusehen. Ein Markieren kann aber auch in Bildern und Sprache oder strukturell stattfinden. So etwa, wenn Menschen, die mit dem Bösen assoziiert werden und aufgrund ihrer Erscheinung vorverurteilt werden — wie beim polizeilichen racial profiling von Schwarzen oder schwarzhaarigen Menschen, in Shisha-Bars oder ganzen Wohnvierteln. In gewisser Weise sind die strukturellen, bürokratisierten und technologisierten Formen des Markierens fast schon grausamer als das mittelalterliche Verstümmeln. Weil sie von Einzelfällen oder konstruierten Feindbildern auf ganze Bevölkerungsgruppen, soziale Räume oder Geographien schließen. Wenn es die Technologie erlaubt, werden heute auch markierte Dörfer und ihre Bewohner*innen per Knopfdruck ausgeschaltet.

Das schöne Sehen

Die Hässlichkeit ist somit nicht nur die Kehrseite der Schönheit, sondern beheimatet auch einen Hass in sich, der so einiges ist: selbstgerecht, herablassend, vermessen und tödlich. Als Gegenmittel plädiert Stangneth für eine Kultur des „schönen Sehens“. Das „schöne Sehen“ wäre hoffnungsvoll und vernunftgeleitet. Es würde Menschen nicht irrational markieren und vorverurteilen. Aber was, wenn der Fehler nicht in der Hässlichkeit läge, sondern im Mythos der Schönheit begründet wäre? Mit ihr wird das Gute, Vernunft und Hoffnung assoziiert. Solange wir ein Ideal des absolut Guten oder Schönen pflegen, erlauben wir am anderen Ende der Gleichung zu hassen, zu verurteilen und zu bestrafen. Aber wer ist schön genug, um über diese Macht zu verfügen? Erst durch ihre Abgrenzung vom Rest, erfährt die Schönheit ihre Bedeutung. Welchen Sinn hätte Schönheit als Idee, wenn wir von ihrer Pluralität und nicht ihrer Exklusivität ausgingen, wenn wir sie in Vielen sehen würden statt in den Wenigen. Konsequenterweise wird damit die Hässlichkeit zur zielführenden negierten Schönheit und zu einem Machtinstrument. Der Psychiater und politische Philosoph Frantz Fanon untersuchte 1952 in „Schwarze Haut, Weiße Masken“ die psychologischen Folgen der Assimilation in den französischen Kolonien: „Dieses ganze Weiß, das mich verbrennt. Ich setzte mich ans Feuer und wurde mir meiner Uniform bewusst. Ich hatte sie nicht gesehen. Sie ist in der Tat hässlich. Ich halte hier inne, denn wer kann mir sagen, was Schönheit ist?“ Seine tiefgreifenden Psychoanalysen kolonisierter Schwarzer Patient*innen stellten die Frage nach der Internalisierung von weißen Normen, die Begehren, Empfinden, Körper und Geist der Menschen strukturiert. Die Assoziation der eigenen Haut als Hindernis, als falsch, wird zu einer unausstehlichen Gefangenschaft in einer Uniform, die nicht abgelegt werden kann. Die immer wiederkehrende Darstellung der kolonisierten Körper als Kriminelle, als Verlierer, als Barbaren brennt sich in die Netzhaut ein, geht über ins eigene Bewusstsein. Nur um dann beim Blick in den Spiegel mit Schrecken feststellen zu müssen, dass man selbst jener Barbar sei. Das psychologische Trauma, in einem Körper zu leben, den man zu hassen lernte, davon handelt Hässlichkeit. Umgekehrt erzählt die Schönheit von dem Privileg, in einem Körper zu leben, den man zum Nachteil anderer Menschen einzusetzen lernte.

Der belastete Ästhetik-Begriff

„Schönheit liegt im Auge des Betrachters.“ Diese Aussage fällt oft wie ein Schiedsspruch. Er macht die Schönheit zur Frage des Geschmacks, einer subjektiven und individuellen Angelegenheit. Der dekoloniale Theoretiker Walter Mignolo erhebt Widerspruch gegen diese Annahme. Es müsse unterschieden werden zwischen dem eurozentrischen Projekt der Lehre des Schönen, der Ästhetik (aestheTics) und dem Empfinden, also der sinnlichen Erfahrung (aestheSis). Das griechische Wort aestheSis beschreibe kein ausgearbeitetes Konzept, keine Lehre vom Schönen wie der belastete philosophische Ästhetik-Begriff, der im 18ten Jahrhundert zum Schlüsselkonzept der sinnlichen Erfahrungswelt der Europäer*innen wurde. In seinen Beobachtungen zum Schönen und Erhabenen begründet Immanuel Kant die Grundlagen der ästhetischen Urteilskraft, die nachhaltig den europäischen Ästhetik-Begriff prägen sollten. Mignolo beschreibt diese Ästhetik als Kolonisator der sinnlichen Erfahrung, die sie räumlich und zeitlich auf eine Lokalität und einen Moment reduziert und von dort aus weiter reguliert. Vergleichbar ist die Unterscheidung der normierten Ästhetik von der nicht-normierten sinnlichen Erfahrung mit der Idee der modernen Bildung im Kontrast zur Praxis des Lernens. Gelernt wurde immer und überall, aber das westliche Bildungsideal mit seinen spezifischen Hierarchien, seiner Organisation, seinen Absichten und Methoden war ein koloniales Machtinstrument. Nachdem Darwins Buch „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl von 1871“ veröffentlicht wurde, begannen männliche Wissenschaftler, sich mit rassistischen Haartypen als Zeichen der Primitivität zu beschäftigen. Eine 1893 veröffentlichte Studie untersuchte 271 weiße Frauen auf Wahnsinn und stellte fest, dass Frauen, von deren Wahnsinn ausgegangen wurde, mit größerer Wahrscheinlichkeit Gesichtsbehaarung hatten, die denen der „minderwertigen oder primitiven Rassen“ ähnelten. Zu den fragwürdigen Ideen aus Philosophie, Bildung und Naturwissenschaften kommt eine künstlerische Form wie die Karikatur. Die Karikatur, die in der Überzeichnung ihren Sinn hat, orientiert sich fast ausschließlich an rassistischen, ableistischen, antisemitischen und sexistischen Stereotypen. Zusammen bilden die genannten Disziplinen, Ideen und Formen eine komplexe Choreographie, die nachhaltig beeinflusst, was wir heute als subjektive Wahrnehmung oder Geschmacksfrage banalisieren.

Wir treffen uns auf der anderen Seite der Scham

Auf ihrem Blog Leaving Evidence schreibt die Autorin und Aktivistin Mia Mingus: „Wir alle laufen vor dem Hässlichen davon. Und je weiter wir davor weglaufen, desto mehr stigmatisieren wir es und desto mehr Macht verleihen wir der Schönheit.” Und weiter: „Wie nehmen wir dem Hässlichen den Stachel heraus? Was würde es bedeuten, unsere Hässlichkeit anzuerkennen, für alles, was sie uns gegeben hat, wie sie unseren Geist geformt und uns darüber aufgeklärt hat, wie wir jemand anderen nie fühlen lassen wollen?” Mingus, die über eine körperliche Behinderung verfügt, betont auch die Irreversibilität von körperlichen Gegebenheiten und die Illusion einer Wahl, jemals anders sein zu können. Schönheit ist exklusiv, ohne Ausgrenzung kann sie nicht existieren. Zu welchem Preis streben wir nach Schönheit, wenn jene Schönheit in Ausgrenzung begründet ist? Auch der afroamerikanische Künstler Kerry James Marshall arbeitet mit negierter Schönheit. Seine Gemälde, die mittlerweile zu den zentralen Werken der zeitgenössischen Malerei zählen, beeindrucken durch die bewusste Inszenierung der tiefschwarzen Haut. Die von der Gesellschaft negierte Schönheit der dunklen Hautfarbe wird in Marshalls Arbeit zum Ausgangspunkt seiner Bildsprache. Seine Arbeiten bestechen dadurch, dass die Haut der Protagonist*innen so dunkel gemalt ist, dass die Betrachter*innen erst beim längeren Hinsehen ihre Gesichter erkennen. Zudem werden Freude, Schönheit, Stolz und Intimität bei Marshall in allen Facetten schwarzer Farbe dargestellt. Dieser kompromisslose Ungehorsam in seinem Denken und seiner künstlerischen Praxis eröffnet neue Formen des Sehens und Gesehenwerdens. Darstellungen dieser Art werden nur dann sinnlich erfahrbar, wenn sie verstanden werden. Sie demonstrieren, wie unsere Sinne nicht einfach auf Oberflächen und Kontraste reagieren, dass es keine natürliche oder mechanische Sinneserfahrung gibt. Sie demonstrieren, wie hässlich und schön keine fixen Töne einer ästhetischen Palette sind, sondern diskursiv und politisch produziert werden. Wir lernen zu sehen. Es braucht nur einen jener Hässlichen, der in seinem Eigeninteresse handelt, eine wohlwollende Wahrnehmung von sich ausgehend schafft, um tausende Seiten Selbstgespräche weißer Theoretiker*innen bedeutungslos zu machen. Wir können unseren Blick aber auch gezielt umgewöhnen, indem wir unseren visuellen oder ideologischen Konsum bewusst steuern. Sobald wir verstanden haben, dass nicht alle Bilder zufällig auf uns treffen und unsere Assoziationen formen, können wir strategisch jedem wiederholten Bild einer konventionell-schönen Person, eines medialen Feindbilds oder einem anderen Stereotyp eine widerständige, subversive und alternative Darstellung der selben Identitäten und Körper entgegensetzen. Langfristig werden so nicht nur unsere Sehgewohnheiten erweitert, sondern auch unsere Empfindungen und Gedanken der sinnlichen Erfahrung angepasst. Ein wenig funktionieren wir in dieser Hinsicht wie ein digitaler Algorithmus. Wenn wir nur weiße oder rassistische Inhalte aufnehmen, werden wir entsprechende Reaktionen in unseren Körpern und Persönlichkeiten hervorrufen.

I am here

Die Trans-Feminist*in und Dichter*in Alok Vaid-Menon ist eine weitere Quelle widerständiger Definition. Sie schreibt: “On the other side of shame, I am here – hairy, feminine, powerful, because my white classmates used to call me a monkey, because when my sister’s arm hair grew she was called a man (…)”. Damit stößt sie bei der Mehrheitsgesellschaft oft auf Unverständnis, die daran scheitert sie zu kategorisieren und zu bewerten. Im Gegensatz zu vielen Menschen, die durch die Haar-Entfernung oder das Bleichen nach sozialer Akzeptanz streben und andere Körper imitieren, pflegt Alok ihre Behaarung. So trägt Alok Kleider und Lippenstift, aber rasiert sich nicht die Beine oder ihren Bart. Während Mia Mingus die Erfahrung der Hässlichkeit als Wissensarchiv widerständiger und würdevoller Politiken theoretisiert, ist für Alok das widerständige Umdeuten des Hässlichen, hier der Behaarung, ein Weg, um auf die andere Seite der Scham zu gelangen.

Moshtari Hilal

ist Visual Artist, Mitbegründerin des internationalen Forschungskollektivs AVAH (Afghan Visual Arts and History) und gefragte Rednerin zu feministischen und antirassistischen Themen.


https://www.moshitari.de  https://avahcollective.com 

Illustration © Moshtari Hilal

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