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Embryo ist größer als das Leben

Von allen Münchner Bands ist Embryo mit Abstand die internationalste. Dabei ist sie nicht einmal weltbekannt. 1969 schafft Gründer Christian Burchard ein musikalisches System, das sich gängigen Zuschreibungen entzieht. Embryo waren weder Krautrock noch Jazz, schon gar nicht Pop - Embryo schlagen Wurzeln in der ganzen Welt. Sie bespielen einen Raum der Neugierde und des Lernens, abseits der Leitkultur. Es gibt Gerüchte, sie hätten sich eines Nachts Instrumente aus dem Münchner Völkerkundemuseum „geliehen“ (und in einer anderen Nacht zurückgebracht).

Als sie 1979 zu einem Jazzfestival nach Kalkutta eingeladen werden, beschließen sie, die Reise nach Indien mit dem Auto anzutreten. Zu dieser Zeit ist das durchaus nicht unüblich. Zahlreiche Hippies aus der westlichen Welt strömen in den Siebzigern über den sogenannten Hippie Trail von Istanbul über den Iran nach Afghanistan und Pakistan. Am Khyber-Pass schließen sie sich für zwei Monate einem Zirkus an und spielen in der Manege. Doch 1979 ist das Jahr der Reisewarnungen: Embryo sind überall dort, wo die Utopie aus er Welt geputscht wird: Als Ayatollah Khomeini im Iran nach der Macht greift, als die UdSSR in Afghanistan einmarschiert, die Türkei in die Militärdiktatur driftet. Die Rückreise ist ausgesprochen heikel. Bandmitglied bei Embryo zu sein, erfordert große Opfer. Von einer gefeierten Tournee in Japan, mit Fernsehauftritten und Hotels, geht es nicht selten direkt auf Campingplätze in Portugal, Kommunenfeste auf entlegenen Bauernhöfen oder quer durch Marokko.

Das System Embryo kennt keinen Komfort

Und es ist entkoppelt von kommerziellem Verwertungszwang. Es stellt die Schönheit der Zusammenkunft über das Ergebnis und das, was andere Erfolg nennen. Und es lebt unterhalb des Existenzminimums. In letzter Konsequenz hat das nur Christian Burchard durchgehalten – dafür hat er sich über die Jahrzehnte mit über 400 wechselnden Mitgliedern verbunden. Die damals Jugendlichen Jan und Max Weissenfeldt kommen hier zu musikalischer Ausbildung. Sie gründen mit anderen „Embryo-Kids“ die legendären Poets Of Rhythm, die den Klang von Amy Winehouse inspiriert haben. Ohne Embryo hätte es die Dissidenten nicht gegeben, mit ihrem Welthit „Fata Morgana“, der in der westlichen Popwelt nur marginal wahrgenommen wird, sich jedoch in Brasilien und Marokko millionenfach verkauft. Embryo’s Gitarrist Roman Bunka wird einer der angesehensten Lauten-Spieler der arabischen Welt und begleitet seit Jahrzehnten den marokkanischen Popstar Mohamed Mounir an der Oud in ausverkauften Stadien. Nick McCarthy spielt bei Embryo, bevor er mit Franz Ferdinand den Erdball umkreist. Billy Holiday’s Pianist Mal Waldron verlässt die Formation von Miles Davis, um bei Embryo einzusteigen. Miles ist verwundert, wird aber zum Fan, als er die Musik hört. 2018 stirbt Christian Burchard nach langer Krankheit. Er hinterlässt weitverzweigte globale künstlerische und politische Allianzen, ein Haus voller Instrumente und Musikkassetten — und Embryo. Seine Tochter Marja Burchard führt seitdem die Geschicke. Sie ist seit der Kindheit Mitglied, spielt fantastisch Keyboard und Piano, Posaune, Schlagzeug, Vibraphon, war auf unzähligen Tourneen dabei — die Übergabe scheint von langer Hand geplant, denn Embryo ist größer als das Leben.

Neulich ist der erste Embryo-Tonträger erschienen, seit Christian Burchard nicht mehr physisch mitwirken kann. Eine Live-Aufnahme, zu Lockdown-Zeiten im Münchner Import Export entstanden. Marja Burchard spielt im Trio mit ihrem langjährigen Weggefährten Maasl Maier und dem Schlagzeuger Sebastian Wolfgruber. Das bedeutet rasenden weltgewandten Jazzrock, Musik von weitverzweigter Assoziation und leuchtender Transzendenz. Musik von globaler Perspektive — im Bewusstsein, dass es unterschiedliche Ebenen von Wahrnehmung gibt. Das tut gut in einer Zeit, in der sich alle einig scheinen, das ganze Jahr 2020 sei vergeudet gewesen wegen Corona. Vielleicht hat sich 2020 allein wegen dieser Platte gelohnt, wer weiss das schon? So stelle ich mir das zumindest vor. Die Platte ist noch auf dem Weg zu mir. Ich habe sie, ehrlich gesagt, noch nicht gehört. Doch was soll da schiefgehen? Ich empfehle sie auch ungehört wärmstens!

Sebastian Reier

Sebastian Reier alias Booty Carrell ist Vinylarchäologe und kümmert sich um Musik an den Münchner Kammerspielen. Außerdem ist er DJ und hat eine Radiosendung bei ByteFM.

twitter booty-c.com 

Live Behind The Green Door von Embryo erscheint als LP bei Permakultur Schallplatten

Reinhören und kaufen

In München ist sie erhätlich bei Optimal Records

Wer Embryo in Zeiten der Pandemie unterstützen will – hier entlang

Embryo Links
www.embryo.de
www.facebook.com/embryo2000

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