In der Krise zeigt sich, was modernen Gesellschaften wirklich wichtig ist. Jetzt werden die Entscheidungen getroffen, die unser Leben für die nächsten 30 Jahre bestimmen – und womöglich weit darüber hinaus. Ein Gedankenexperiment von Ingolfur Blühdorn.
Wenn große Firmen in ökonomisch schwieriges Fahrwasser geraten, dann ist eine gängige Strategie, dass sie Nebensparten abstoßen und sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, auf das wirklich Wichtige. Ganz so machen es wohl auch liberale Konsumgesellschaften. Die sind keine Firmen und keine mit einem einheitlichen Willen handelnden Akteure, aber auch sie sind aufgerufen, sich auf das wirklich Wichtige zu konzentrieren. Denn seit längerer Zeit schon befinden sich diese Gesellschaften in einem nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial, ökologisch, politisch und kulturell höchst schwierigen Fahrwasser. Wissenschaftler*innen und soziale Bewegungen diagnostizieren eine mehrfache Nachhaltigkeitskrise und warnen immer dringlicher vor einem drohenden Untergang. Aber moderne Konsumgesellschaften verfolgen vielfältige Ziele, die oft nicht miteinander vereinbar sind. Und sie haben keinen Kompass, der ihnen zeigt, was das wirklich Wichtige ist und welcher Weg der wirklich richtige. Ein Wandel zur Nachhaltigkeit, fürchten daher viele, werde – wenn überhaupt – wohl erst gelingen, wenn eine große Katastrophe ihn einfach erzwinge und ein Weiter so schlicht keine Option mehr sei. Erst dann würden moderne Gesellschaften sich auf das wirklich Wichtige besinnen.
Wann, wenn nicht jetzt?
2019 hatte es so ausgesehen, als sei dieser Katastrophenpunkt erreicht. Verheerende
Hitzewellen und Dürreperioden, riesige Waldbrände in Brasilien, Kanada, Sibirien, Grönland
und zuletzt in Australien hatten vor allem das Klimathema aktueller als je zuvor gemacht und
es konstant in der medialen Berichterstattung gehalten. Die Klima- und
Nachhaltigkeitsforschung hatte die mehrfache Unhaltbarkeitskrise moderner Gesellschaften
sowie die hohe Dringlichkeit einschneidender Maßnahmen mit immer neuen empirischen
Daten umfassend belegt. Greta Thunberg und die Fridays for Future-Bewegung hatten
unzählige Schüler*innen und Jugendliche politisiert, denen noch gerade nachgesagt worden
war, dass sie politisch desinteressiert und apathisch seien. Unser Haus steht in Flammen! war
ihre klare Botschaft gewesen, und die fand überall Gehör. Angesichts des nur kurzen
Zeitfensters, das bleibe, um noch viel Schlimmeres zu verhindern, sei es jetzt Zeit zu Handeln
– sofort! Das Europäische Parlament hatte im November den Klimanotstand ausgerufen, und
der UN-Klimagipfel in Madrid hatte sich die Forderung Zeit zu Handeln! zum Motto der
Veranstaltung genommen. Dieser Gipfel blieb enttäuschend, aber irgendwie schien doch klar,
dass es jetzt kein Zurück mehr gab und die Politik es nun nicht mehr bei ein paar
symbolischen Maßnahmen belassen konnte.
Dann kamen COVID-19 und der weltweite Gesundheitsnotstand. Die Pandemie verdrängte
das Klimathema aus der öffentlichen Diskussion. Sie rückte aber andere Dimensionen der
Nicht-Nachhaltigkeit moderner Gesellschaften sehr klar ins Zentrum – vor allem die
Auszehrung der öffentlichen Gesundheits- und Sozialsysteme, die Krisenanfälligkeit der
internationalisierten Wirtschaft und die systematische Geringschätzung, Unterbezahlung und
Prekarisierung ganzer Berufsgruppen, die absolut unverzichtbare Dienste leisten. Tatsächlich
derangierte der Corona-Notstand die gesamte Normalität des täglichen Lebens, und gerade
diese umfassende Denormalisierung verlangte von jeder Einzelperson wie auch von der
Gesamtgesellschaft, sich auf das wirklich Wichtige zu besinnen. Die Pandemie, so stellten
viele Kommentator*innen denn auch fest, bewirke, dass verschüttete Werte wie Solidarität,
Zusammenhalt und Gemeinwohlorientierung wieder an Bedeutung gewönnen. Wie schon
zuvor beim Klimaschutz galt nun auch bei der Sicherung der sozialen Nachhaltigkeit: Wann,
wenn nicht jetzt? Und die Politik schwor, bei ihrem Krisenmanagement alles zu tun, um
niemanden allein- oder zurückzulassen.
Vertane Chance?
Rückblickend könnte man inzwischen mit Recht sagen, dieser zusätzliche Corona-Impuls sei schnell wieder verpufft; der Versuch, sich nun endlich auf das wirklich Wichtige zu besinnen und die sozial-ökologischen Transformation entschieden in Angriff zu nehmen, sei ein weiteres Mal krachend gescheitert. Man könnte aber auch sagen – und sei es nur als Gedankenspiel: Die Pandemie war oder ist keineswegs yet another missed opportunity, sondern sie hat modernen Gesellschaften sehr wohl geholfen, sich auf das ihnen wirklich Wichtige und Wesentliche zu besinnen, und die Politik hat dann auch mit größter Entschiedenheit diesen Prioritäten entsprechend gehandelt. Eine solche eher beobachtende als aktivistisch-mobilisierende Betrachtungsweise entspräche freilich nicht den gängigen nachhaltigkeitspolitischen Bekenntnissen. Sie würde aber durchaus helfen, das Neue an der gegenwärtigen Situation sichtbar zu machen. Denn auch wenn die Pandemie kaum als Impuls zur Lösung der Nachhaltigkeitskrise wirkte, kommt ihr für moderne Gesellschaften wohl doch eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Um die erfassen zu können, muss man sich zunächst die besondere Situation moderner Konsumgesellschaften sowie ihr spezifisches Dilemma vor Augen führen.
Die Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit
Diese besondere Situation ergibt sich genau aus der mehrfachen Unhaltbarkeit dieser
Gesellschaften. Mit an vorderster Stelle ist hier die wachsende Instabilität des kapitalistischen
Wirtschaftssystems zu nennen, das sich spätestens mit der Banken- und Finanzkrise als
unhaltbar erwiesen hatte und seitdem nur durch massive Interventionen wie etwa die
Zinspolitik und Anleihenankäufe der EZB am Leben gehalten wird. Sozial betrachtet gehört
zu den Unhaltbarkeiten der insgesamt wohlhabenden Gesellschaften des globalen Nordens
die steigende soziale Ungleichheit und Ausgrenzung sowie ihre immer tiefere Spaltung und
Polarisierung. Sie entlädt sich in zunehmend gewaltsamen Konflikten, die von manchen
politischen Akteur*innen noch bewusst weiter angeheizt werden. Aus ökologischer
Perspektive liegt die Unhaltbarkeit im systematischen Überschreiten planetarischer Grenzen
und in der rasch fortschreitenden Destabilisierung bio-physischer Systeme. Politisch gesehen
zeigt sie sich etwa im Niedergang der liberalen Demokratie, die auch in den ältesten und
gefestigtsten Demokratien längst von einer autokratisch-autoritären Wende erfasst worden
ist. Und in kultureller Hinsicht liegt die große Unhaltbarkeit unter anderem in einem
umfassenden Wertewandel, in dessen Vollzug das aufklärerische Ideal der Freiheit und
Mündigkeit ganz neu ausbuchstabiert wird, um so neue Horizonte und Handlungsspielräume
für das heute wirklich Wichtige zu erschließen.
Diese verschiedenen Phänomene greifen wechselseitig ineinander und addieren sich zu der
überall diskutierten Nachhaltigkeitskrise, die wohlbemerkt ausdrücklich keine bloß
ökologische ist. Für moderne Gesellschaften ist dabei charakteristisch, dass sie ihre vielfache
Unhaltbarkeit und deren Konsequenzen zwar gründlich erforschen, dokumentieren und
öffentlich thematisieren, die bestehende Ordnung gleichwohl aber mit aller Entschiedenheit
verteidigen, denn sie institutionalisiert, was gern in die Formel unsere Freiheit, unsere Werte
und unser Lebensstil gefasst wird und als nicht verhandelbar gilt. Kennzeichnend und
unterscheidend ist für moderne Gesellschaften entsprechend die Spannung zwischen, auf der
einen Seite, der Einsicht in die Unhaltbarkeit der bestehenden Ordnung und dem Bekenntnis
zur Dringlichkeit einer großen Transformation und, auf der anderen Seite, der festen
Entschlossenheit, die konstitutiven Prinzipien dieser Ordnung mit aller Entschlossenheit zu
verteidigen. Genau diese quälende Gleichzeitigkeit zwischen Weiter so ist keine Option! und
Weiter so um jeden Preis! ist das unterscheidende Merkmal der Gesellschaft der Nicht-
Nachhaltigkeit.
Ein Geschenk des Himmels?
Diese Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit hatte sich Ende 2019, also unmittelbar vor der
Corona-Pandemie, in eine kuriose Situation manövriert. Genau genommen hatten Greta
Thunberg und die neue Klimabewegung das erreicht: Sie hatten den konstitutiven
Widerspruch der Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit in einer historisch neuartigen Art und
Weise zugespitzt. Nie zuvor hatte es einen so breiten gesellschaftlichen Konsens gegeben,
dass Weiter so keine Option ist. Aber gerade im Zeichen des Rechtspopulismus hatte auch der
entgegengesetzte Konsens, dass Weiter so ein unverhandelbarer Imperativ ist, eine breitere
und stärkere Basis in der Gesellschaft denn je. Einerseits wären nach der kaum überbietbaren
Mobilisierung der vorhergegangenen Monate nun politische Maßnahmen erforderlich
gewesen, die den Erkenntnissen der Klimawissenschaft und der Nachhaltigkeitsforschung
wirklich Rechnung getragen und eine sozial-ökologische Transformation eingeleitet hätten.
Alles andere hätte für die Politik und die zivilgesellschaftlichen Bewegungen einen
Gesichtsverlust und Offenbarungseid bedeutet. Andererseits war aber auch bei der neuen
Klimabewegung weitgehend unklar geblieben, wie eine sozial und ökologisch befriedete
Gesellschaft eigentlich aussehen könnte, wie sie mit den heute vorherrschenden
Verständnissen von Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung
zusammenstimmen würde, wer überhaupt das politische Subjekt einer sozial-ökologischen
Transformation sein sollte, und wie die erforderlichen Maßnahmen angesichts dieser
Vorstellungen von Freiheit und Selbstverwirklichung eigentlich legitimiert werden sollten.
Und erschwerend kommt hinzu, dass der zentrale Widerspruch der Gesellschaft der Nicht-
Nachhaltigkeit eben nicht einfach ein Konflikt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen
Gruppen ist, sondern sich bis in das Bewusstsein jede*r Einzelnen – auch der Klimabewegten
– fortsetzt.
In dieser kuriosen Pattsituation kam die Corona-Pandemie – um einen alten Ausspruch von
Ulrich Beck aufzunehmen – wie ein erlösendes Geschenk des Himmels, denn sie half zu
klären, was modernen Gesellschaften wirklich wichtig ist. Ganz in der Tradition des kritisch-
progressiven Denkens schienen das zunächst noch die verschütteten Werte und ein gutes
Leben für alle zu sein. Sehr schnell wurde aber deutlich, dass statt einer sozial-ökologischen
Transformation für überwältigende Mehrheiten eine möglichst rasche Rückkehr zur alten
Normalität das wirklich Wichtige war und eine möglichst vollständige Wiederherstellung
ihrer Freiheit, ihrer Werte und ihres Lebensstils – koste es, was es wolle. Dabei trat auch die
systematische Geringschätzung und Ausbeutung der bzw. des Systemrelevanten wieder in
den Hintergrund, denn für die unverhandelbare Freiheit, diese Werte und diesen Lebensstil
sind die eben konstitutiv. Und je mehr das wirklich Wichtige in den Vordergrund trat, desto
klarer und entschiedener hat die Politik auch danach gehandelt. Auch in dieser Hinsicht war
Corona wie ein Geschenk des Himmels. Denn die Pandemie ermöglichte nicht nur, sondern
erzwang geradezu ökonomische Maßnahmen, die sonst niemals zu rechtfertigen gewesen
wären. Und sie erlaubte, für diese Maßnahmen einen Preis zu bezahlen, der unter anderen
Bedingungen niemals akzeptiert worden wäre.
Die Corona-Pandemie bot bzw. bietet der Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit eine nur
schwer zu kritisierende Begründung dafür, unvorstellbare Milliardenbeträge in die erneute
Stimulation von Wachstum und Konsum zu investieren und in die Restabilisierung einer
ökonomisch-sozialen Ordnung, deren mehrfache Unhaltbarkeit eigentlich längst unstrittig ist.
Sie löst das Dilemma auf, in dem die Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit sich verfangen
hatte. In Anlehnung an Wolfgang Streecks gleichnamigen sozialwissenschaftlichen Bestseller
könnte man sagen: Die Pandemie gibt der Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit die
Möglichkeit, für unsere Freiheit, unsere Werte und unseren Lebensstil noch einmal wieder
Zeit zu kaufen, auch wenn klar absehbar ist, dass sich die mehrfache Unhaltbarkeit und ihre
bekannten Konsequenzen damit weiter zuspitzen werden. Die Pandemie hat also eine
Entscheidung über das wirklich Wichtige und das im Zweifelsfalle Zweitrangige
herbeigeführt. Nicht, dass man nicht vorher schon um die Wichtigkeit des Ökonomischen
gewusst hätte. Aber es waren eben machtvolle Zweifel aufgekommen, und nun verfestigt die
Politik die kapitalistische Logik der Bereicherung, des Wachstums und des Konsums
entschiedener und mit stärkeren Mitteln denn je – und damit auch die Logik der sozialen und
ökologischen Geringschätzung, Ausbeutung, Exklusion und Zerstörung. Für die
Stabilisierung der Gegenwart nimmt sie riesige Hypotheken auf die Zukunft auf. Über die
kommenden 30 Jahre, heißt es, sollen sie schrittweise und vor allem von der jungen
Generation abgezahlt werden. Dass nach den Megakrisen des vergangenen Jahrzehnts –
Banken, Migration, Rechtspopulismus, Klima und nun Corona – kaum damit zu rechnen ist,
dass jetzt eine 30-jährige Atempause folgen wird, spielt keinerlei Rolle. Für den Moment ist
die Kuh mal wieder vom Eis. Für den Moment ist das Weiter so gesichert. Das ist das
wirklich Wichtige. Und vielleicht gilt das auch gar nicht nur für den Moment, denn wenn das
verbleibende Zeitfenster für eine sozial-ökologische Transformation tatsächlich nur noch sehr
kurz ist, dann überbrücken die jetzt beschlossenen Konjunktur- und Rettungspakete
möglicherweise die Zeit, bis es für klima-, ökologie- oder gerechtigkeitspolitische
Rettungspakete ohnehin zu spät ist.
Kein Gutes Leben für alle
Als die Rechtspopulist*innen America First! forderten, die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken ließen und den Klimawandel leugneten, war das für zivilisierte Bürger*innen und Gesellschaften noch höchst unmoralisch und anrüchig. Denn das widersprach unerträglich dem aufklärerischen Ideal einer sozial und ökologisch befriedeten Weltgesellschaft und eines guten Lebens für alle. Corona verändert das. Rückblickend wird Corona vielleicht tatsächlich einmal als das Eingangstor zu einer neuen Gesellschaft gesehen: Nicht einer sozial- ökologisch transformierten, sondern einer Gesellschaft, die zur Sicherung unserer Freiheit, unserer Werte und unseres Lebensstils das aufklärerische Ideal einer sozial und ökologisch befriedeten Weltgesellschaft und eines guten Lebens für alle endgültig aufgegeben hat.
Ist das die neue Situation?
Nicht unbedingt! Einstweilen sind diese Überlegungen noch ein Gedankenexperiment, das die Perspektive bewusst verengt, um bestimmte Aspekte hervorzuheben. In den Gesellschaften des globalen Nordens wird das Szenario, das dieses Experiment sichtbar macht, aber von großen – wenn auch in sich tief gespaltenen – Mehrheiten getragen und legitimiert. Trotzdem ist es nur genau so alternativlos wie die offenbar über diese Spaltungen hinweg vorherrschenden Verständnisse von unserer Freiheit, unseren Werten und unserem Lebensstil.
Ingolfur Blühdorn ist Professor für soziale Nachhaltigkeit und Leiter des Instituts für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Soziologie, Gesellschaftstheorie, der Wandel moderner Demokratien und umweltpolitische Theorie. Gerade ist vom ihm Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit: Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet (Transcript 2020) in Buchform erschienen. Zum direkten Weiterlesen verweisen wir auf den daraus destillierten Essay Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Und zur grundsätzlicheren Beschäftigung mit dem Autor sei außerdem auf sein nach wie vor herausforderndes Buch Simulative Demokratie: Neue Politik nach der postdemokratischen Wende (Suhrkamp 2013) verwiesen.