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Oktober 2022

Ein anderes Licht

„Wenn eine Sache nur eins zu sein scheint, ist die Beobachtung falsch.“
Alexander Kluge in einem Interview mit Steffen Andrae

„Der is ins Wasser gefallen, der is ins Wasser gefalln, wie, der is ins Wasser gefalln.“
Karl in Georg Büchners Woyzeck

Ich bin verwirrt.

Es ist ein Raum ohne Licht. Ich stehe in diesem Raum und greife mir an die Stirn und ertaste eine geschwollene Schramme mit vertrocknetem Blut. Als meine Finger die Stelle berühren, ziehe ich Luft ein und die Zähne zusammen.

Ich bin so dermaßen verwirrt.

Der Raum hat keine Türen. Keine Fenster. Es ist ein Raum. Aber das weiß ich nur, weil ich soeben mit tastenden Händen vier kahle Wände erspürt habe. Meine Schritte führen mich im Kreis.

Du bist verwirrt.

Gemeinsam schritten wir durch die Straßen der Stadt, woran das Meer sich schmiegt, als wäre die Straße sein Freund. So wie wir. Wir waren im Wasser, am Pazifik, beim Strand, der schimmert grün in der Nacht.

Wovon träumt dir bei Nacht?

Vom Versinken.

Versinken?

Ich erinnere all die Menschen, die an den Gemälden aus Glas vorüberziehen.

Gemälde aus Glas?

Galerien.

Mit Schaufensterscheiben?

An denen entlang wir bald trieben und dort, wo wir trieben, war das Flussbett Asphalt.

An deiner Hand fand ich Halt.

Die Stadt grenzt ans Meer, die liegt am Pazifik, die hat einen Strand, der schimmert grün in der Nacht, wie im Traum.

Wovon träumt dir bei Nacht?

Kinderwägen ohne Kinder.

Und sie schieben sie, als wären sie nicht leer, doch ich seh es genau, sie schieben sie zum Strand.

Ich erinnere mich.

Wie du singst in der Nacht auf dem Feld, wo der Mond auf dich fällt, so wie Scheinwerferlicht.

Deine Schritte führen dich im Kreis.

Wer weiß…

Ich weiß.

Lass mich dir zeigen, was das heißt. Die Luft ist stickig, soviel ich weiß, und darum schweif ich umher, betaste die Wände mit meinen Händen auf der Suche nach Fenstern, doch ich spüre nur Wände, und meine Hände stehen von mir ab, sie hängen herab, sie schweben allein, aber ich sehe sie nicht, ihre ganze Gestalt kommt allein vom Gefühl.

Dieser Raum ist deine Welt?

Und in der Welt bald alles kühl.

So waren wir Freunde?

Wir sind es noch, nur jetzt jeder für sich, wir schweben allein, wie der Orionnebel, der eintausend Lichtjahre entfernt von uns weilt.

Von hier aus links?

Oder doch schräg nach oben?

In jedem dieser Fälle liegt er tief.

Doch was heißt tief, was heißt denn seicht, wenn keine Schwerkraft länger wirkt? Was liegt dann drinnen, was liegt draußen, was ist nur außerhalb von diesem Raum? Was ich höre, es ist Rauschen, und es rauscht in meinem Kopf, aber ich höre es wie von draußen und bald stülpt sich alles um, geht von innen mir nach außen, schon wird es kalt. Und ich gefriere. Ganz bald schon bin ich Eis.

Meine Schritte sind Dritte in diesem Raum.

Und so führen sie auch dich im Kreis, wer weiß, es ist ein Raum ohne Licht, vielleicht führen sie dich auch entlang eines Ganges, den du nicht siehst, vielleicht, nur vielleicht, kehrst du zurück in die Stadt, die grenzt an das Meer, die liegt am Pazifik, der schimmert grün in der Nacht, und der Strand…

Vom Strand war ich gestohlen worden, als ich schlief.

…ist eine Straße aus Sand und sie führt dich im Kreis, rund ums Meer, aber du fürchtest die Nässe, du scheust das krasse Nass des Wassers und doch erinnerst du dich an die leeren Kinderwägen und an die Surfbretter, die sie, lässig unter den Arm geklemmt, zu einem der Spots trugen, Thalia Street oder Brooks Street oder zu einem anderen Spot, abseits der Straße.

Aus Sand?

Aus Asphalt.

An deiner Hand fand ich Halt.

Und die Stadt liegt am Strand, sie grenzt an die Wellen, der Pazifik, er schimmert grün in der Nacht und das Feld, auf dem du sangst…

…in das hinein ich versank…

…war aus Sand!

Und an der Wand, an der entlang ich tastend eine neue Runde drehe, befühle ich nun überraschend: keine Wand. Eine Art Fensterrahmen mit verschlossner Jalousie, an der ich reiße und zerre, bis sie mit Schlittern und mit Krachen hinuntersaust auf die Kacheln, auf denen ich stehe, erstaunt, bis ich verstehe, bis ich sehe…

…bis ich Sterne erspähe hinter dem Glas, das zerbrach…

…da liegt ein Ausweg aus dem Raum, aus unsrem Raum, und meine Augen werden blind von dem Licht, das hineinscheint, und so verberge ich das Gesicht hinter meinen Händen, lasse sie jalousienartig hinabgleiten, und wieder wird es dunkel und also will ich tasten, aber alle Hände sind gebunden an meinen Blick und so stehe ich wieder da.

In einem Raum ohne Licht.

Es ist ein anderer Raum.

Ein anderes Licht.

Aber das Fenster, das du fandst, durch das hindurch kannst du doch steigen, hinauf zu den Sternen, hinab zu den Stränden, Hauptsache hinaus!

Ein jedes Fenster führt hinaus und führt dich doch, dahinter, auch hinein. Zwar hinter jedem liegt ein weites Feld, doch jede noch so ferne Weite grenzt in der Ferne schon an neue Weiten.

An einen anderen Raum.

Ein anderes Licht.

Unsere Schritte sind Tritte gegen die Wasserwand und der Wasserstand steigt.

Ich sinke tiefer ein.

Was heißt schon tief, wenn keine Schwerkraft zieht.

In diesem anderen Raum.

Ein anderes Licht.

Von der Decke, da tropft es. Der Beton tropft, Tropfen für Tropfen tropft er tiefer in deinen Kopf hinein.

Bis er bricht.

Dein Raum schwebt in der Luft wie ein Körper im Meer, bis keine Schwerkraft mehr zieht.

Bis alle Sterne auf die Erde fallen.

Und wenn sie einst fallen, fließt der Himmel uns ins Meer, du hörst das Rauschen dich umschließen, das kühle Nass, der Raum wird finster, es ist ein Raum ohne mich, du schwimmst, über den Zebrastreifen, hinein in diesen Raum, du suchst Schutz, es dämmert und es rauscht dumpfer und es dämmert tiefer und der Wasserstand steigt und die Palmen am Pazifik, sie biegen und sie krümmen sich, es schimmert grün in der Nacht, es schimmern die Scheinwerfer, die sie anwerfen, nach deinem Schatten zu suchen, wo die Sterne auf die Erde fallen, sie tauchen danach, aber da bist du nicht und jemand schreit, schreit wie am Spieß, schreit, weil du es nicht kannst, weil du verschwandst in einen anderen Raum, in

ein anderes Licht,

und die Wellen der Berge in der Ferne beben und sie sind eisern wie die Gipfel des Wassers, unter dem begraben du triebst.

Vom Strand war ich gestohlen worden als ich schlief.

Dieser Text fühlt sich den Erfahrungen im MK: Campus-Workshop vom April 2022 zum Thema »Vom ewigen Weiterschreiben« eng verbunden. Danke noch mal an die Workshop-Mitwirkenden: Franzi Adams, Florian Brandlmeier, Maria Schmitz, Marie-Christine Bischur, Raphaela Nowakowski und Gabriel Siebert.

Simon Böhm

1994 geboren, studierte Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse, zuletzt bei Tilmann Habermas. 2016 ist er Gründungsmitglied von PRÄ|POSITION. Er lebt und schreibt in München – derzeit einen Roman und ein Drehbuch.

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