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Wem gehört die Wirklichkeit?

„Göttersimulation“ spielt in unserer Gegenwart, im Übergang von analogem und digitalem Zeitalter. Die Digital Natives sind längst abgewandert in ihre Parallelwelten, die Unterschiede im Umgang mit den digitalen Medien trennen Generationen. So standen am Beginn des Projekts Fragen nach dem utopischen oder dystopischen Gehalt virtueller Welten: „Wenn du fliehen könntest, fliehen in eine virtuelle Realität, wenn du bestimmen könntest, welche Realität würdest du dir erschaffen? Wenn du Macht hättest, wie würde eine perfekte Welt für dich aussehen?“

In den Welten der Videogames, Onlinespiele und Virtual Reality-Chats werden solche im eigentlichen Sinne philosophischen und gesellschaftspolitischen Fragen unmittelbar konkret. Sie müssen intuitiv beantwortet werden, wenn Spielende sich in die Welten des gleichnamigen Spielgenres – Göttersimulation oder englisch God’s Game – begeben, in die Rolle eines übernatürlichen Schöpfers schlüpfen und eigene Welten mitsamt den Regeln und Gesetzen für ihre Bewohner*innen kreieren. Auch in den neuen virtuellen Universen, „Metaversen“ genannt, können User*innen mit einer VR-Brille ausgestattet Schöpfer*in spielen. Beim Gestalten ihrer eigenen Avatare und neuer Welten sind der Fantasie scheinbar keine Grenzen gesetzt: Die Avatare können aussehen wie Comic- oder Mangafiguren, Tiere, Menschen oder völlig neue Fabelwesen; die virtuellen Welten entfalten sich wie aus dem Inneren eines Computerspiels zu einem nahezu rechtsfreien Raum. Mit einer Virtual Reality-Brille, Gaming-Controllern in den Händen und mitunter taktilen Anzügen haben die Spielenden ein immersives Erleben. Sie können dort – in der digitalen Wirklichkeit – all das tun, was sie auch in der analogen Welt tun können, und alles, was sie dazu erfinden: Zum Beispiel sich im Programm „VR-Chat“ treffen und unterhalten, tanzen und in einer Bar Alkohol trinken, sich verlieben, aber auch Opfer von Übergriffen werden. Oder im Metaversum von „Decentralland“ Grundstücke kaufen, eine Auktion von Sotheby‘s mit digitaler NFT-Kunst besuchen und ein Ticket für eine Strandparty von Paris Hilton ergattern. Und nicht zuletzt in der neuen „Horizon World“ von Meta/Facebook-Gründer Marc Zuckerberg vorbeischauen, die all diese Funktionen seiner Vorläufer in einem Mega-Metaverse vereinen möchte.

Wird der Aufstieg dieses riesigen virtuellen Raums die Grenzen der Realität verwischen und die Art, wie wir konsumieren und kommunizieren, für immer neu definieren? Eine kleine Einführung gibt die Sendung Exchange bei Euronews.

Emre Akals Theaterstück, das er für die Uraufführung an den Münchner Kammerspielen selbst inszeniert, spielt in einem kleinen Ausschnitt dieser sich immer weiter ausbauenden digitalen Metaversen – in einer einzelnen virtuellen Welt, die von einem Spieler programmiert wurde. Im Laufe des Abends lernen wir diese Welt aus drei unterschiedlichen Perspektiven kennen, springen immer wieder zwischen den verschiedenen Ebenen hin und her.

Im Zentrum stehen die acht Digital Natives, die die virtuelle Welt bevölkern: Teil einer ganzen Generation, die bereits in digitale Parallelwelten abgewandert ist. Zugleich landen zwei Alte, A und B, oder Walter und Erkin, von ihrem Altersheim aus mit ihren Avataren unvermittelt in der schrägen Welt der Jugendlichen. Es soll ihre letzte Reise sein.

Für die Jugendlichen kommt mit den beiden alten Körpern auch ein Teil der alten Welt und der Generationenkonflikte zurück, vor der sie ins Digitale geflohen sind: Welches Erbe haben die älteren Generationen den Jungen hinterlassen? Wer trägt die Verantwortung für die Zukunft? Wer darf über die Wirklichkeit bestimmen?

Die beiden Alten jedoch stehen am Ende ihres analogen Lebens und begeben sich naiv-beherzt in die neue Welt. Auf ihrer Reise und ihrer Suche nach Gott erscheinen sie mitunter wie Estragon und Wladimir in „Warten auf Godot“, die auf ein Ereignis warten, das nicht eintritt, und die sich in der Zwischenzeit mit ihrer Verantwortung für den Zustand der Welt konfrontieren müssen. Dann wieder hoffen sie auf ein Leben nach dem Tod und begeben sich, in freier Interpretation einer der ältesten Geschichten der Welt, des Gilgamesch-Epos, auf die Suche nach der ewigen Jugend. Sie müssen sich neuen Herausforderungen stellen und mit der Schwierigkeit des Neuerlernens auseinandersetzen. Sie kämpfen sich einen Weg durch die Simulation, versuchen, auf fremdem Terrain Fuß zu fassen.

In einer dritten Perspektive hören wir von einer Mutterstimme, wie sie sich von ihrem Kind entfremdet, das für das neue Zeitalter steht, und sich an das verlorene Haptische erinnert.

So treffen in der Inszenierung verschiedene Generationen aufeinander, deren Bezug zur voranschreitenden Digitalisierung unserer Lebenswelt nicht unterschiedlicher sein könnte. Der Abend erzählt von der Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit des Menschen an der Schnittstelle von analogem und digitalem Zeitalter, spürt verloren geglaubten sinnlichen Erfahrungen nach und überlässt sich trotzdem dem Rausch des Digitalen. Das Team für Bühnen- und Kostümbild, Paula Wellmann, Mehmet & Kazim und Annika Lu Hermann, kreieren gemeinsam eine visuelle Sprache zwischen analoger und virtueller Realität, gespeist aus den Bildwelten des Künstlerduos Mehmet & Kazim.

Mit „Göttersimulation“ schließt Emre Akal das dritte Stück seiner Quadrologie zur Vermessung des Übergangs einer analogen Gesellschaft in ein digitales Zeitalter ab und verhandelt darin große Fragen unserer Gegenwart: Digitalisierung, Generationenkonflikt, die Zukunft unserer Gesellschaft, die Fähigkeit zum Dialog. Während das Gespräch über den Abschied vom Analogen und den Übergang ins Digitale das ganze Stück prägt, zwingt die Frage nach der Schuld am gegenwärtigen Zustand dieser Welt die Generationen zur gegenseitigen Anklage – und schließlich zu einer Annäherung.

Text: Olivia Ebert und Nida Bulgun

Generationenkonflikte über die Jahrhunderte

Bei der Recherche hatten wir Spaß an Zitaten, die den offensichtlich unabwendbaren Generationenkonflikt in allen Jahrhunderten auffinden. Emre Akal hat sie seinem Stücktext vorangestellt:

„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“

 

(ca. 1000 v. Chr., Babylonische Tontafel)

„Was nun zunächst die jungen Leute angeht, so sind sie heftig in ihrem Begehren und geneigt, das ins Werk zu setzen, wonach ihr Begehren steht. Von den leiblichen Begierden sind es vorzugsweise die des Liebesgenusses, denen sie nachgehen, und in diesem Punkt sind sie alle ohne Selbstbeherrschung. […] zornmütig und leidenschaftlich aufwallend in ihrem Zorne. Auch sind sie nicht imstande, ihren Zorn zu bemeistern, denn aus Ehrgeiz ertragen sie es nicht, sich geringschätzig behandelt zu sehen, sondern sie empören sich, sobald sie sich beleidigt glauben. Auch hoffnungsreich sind sie, denn das Feuer, das dem Zecher der Wein gibt, haben die Jünglinge von der Natur […] sie tun alles eben zu sehr, sie lieben zu sehr und hassen zu sehr, und ebenso in allen anderen Empfindungen. Wenn ich die junge Generation anschaue, verzweifle ich an der Zukunft der Zivilisation“

(Aristoteles, 384-322 v. Chr.)

Mitleiden mit der Jugend. — Es jammert uns, wenn wir hören, dass einem Jünglinge schon die Zähne ausbrechen, einem andern die Augen erblinden. Wüssten wir alles Unwiderrufliche und Hoffnungslose, das in seinem ganzen Wesen steckt, wie groß würde erst der Jammer sein! — Weshalb leiden wir hierbei eigentlich? Weil die Jugend fortführen soll, was wir unternommen haben, und jeder Ab- und Anbruch ihrer Kraft unserem Werke, das in ihre Hände fällt, zum Schaden gereichen will. Es ist der Jammer über die schlechte Garantie unserer Unsterblichkeit: oder wenn wir uns nur als Vollstrecker der Menschheits-Mission fühlen, der Jammer darüber, dass diese Mission in schwächere Hände, als die unsrigen sind, übergehen muss.

(Friedrich Nietzsche)