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Programmheft zu „Eine Jugend in Deutschland” nach dem Roman von Ernst Toller
Vom 1. Weltkrieg schwer traumatisiert, schöpfen Frauen und Männer 1918 ungeahnte neue Kraft und stürzen die 900 Jahre alte Monarchie der Wittelsbacher in Bayern. Was für eine Leistung von Veränderungswillen und politischer Phantasie angesichts der umfassenden Verwüstung und Verrohung der Gesellschaft nach dem Kriegsende. Eine Versammlung von 50.000 Körpern erstreitet auf der Theresienwiese demokratische Rechte, formuliert vorher nie Gedachtes und etabliert, angeführt vom Sozialisten Kurt Eisner, über Nacht ein neues politisches System. Der Freistaat Bayern wird ausgerufen. Unter den Anhängern Eisners der 25 Jahre alte Student Ernst Toller. Die Schlüsselfiguren dieser Zeit sind kaum bekannt, sie fehlen im Geschichtsunterricht, im Stadtbild Münchens und auch in der Rede des amtierenden Ministerpräsidenten anlässlich des 100. Jubiläums des Freistaats Bayern. Dabei hat diese vergessene Revolution vom Frauenwahlrecht, über die Trennung von Kirche und Staat und dem 8-Stunden-Tag in Bayern eine neue Realität proklamiert und ein visionäres, demokratisches Gesellschaftssystem in die Erprobung katapultiert. Der erste Ministerpräsident Eisner wird nach nur drei Monaten im Februar 1919 abgewählt und ermordet. Ernst Toller wird genau zu diesem Zeitpunkt Revolutionsführer, übernimmt Verantwortung für die Organisation des politischen Willens in chaotischen Verhältnissen. Parallel erstarken noch während der kurzen Zeit der Räterepublik antisemitische Stimmen. Die Revolution in Bayern dient Hitler bereits 1918 als Nährboden für die jüdisch-kommunistische Weltverschwörung. Der Ruf nach Ordnung wird laut, die SPD geführte Exilregierung setzt nationalistische Freikorps zur „Befreiung“ von München ein. Toller erkennt, dass das utopische Moment, an das er und seine Mitstreiter*innen geglaubt haben, verloren ist. Er schreibt 1933 seinen autobiografischen Roman „Eine Jugend in Deutschland“ und legt sein Scheitern schonungslos offen. Dennoch bleibt er bis kurz vor seinem Freitod 1939 im Exil ein Handelnder, der über seine Kunst mit den gesellschaftlichen Verhältnissen abrechnet, mit ihnen spielt.
Jan-Christoph Gockels Adaption von „Eine Jugend in Deutschland“ sprengt die Genregrenzen, genauso wie Tollers (Künstler)biografie zu bersten, nicht in ein einzelnes Leben zu passen scheint. Die wesentlichen Lebensphasen werden als Serie mit sechs Folgen erzählt, in denen die Schauspieler*innen immer auch ihre persönliche Aneignung der Themen Tollers formulieren: Was bedeutet Jugend? Welches utopische Potential eint die Kraft und Phantasie von Jugend? Welche Koordinaten versetzen mich ins politische Handeln? Wie kann ich trotz Krisen und Zerstörung weitermachen? In welcher Zeit lebe ich, woher kommt die Gewalt, und wie weit reicht meine Phantasie? Die Inszenierung spannt den Bogen von der Kindheit mit der Rebellion gegen einen strafenden Gott zum Hundertjährigen Revolutionär, der endgültig aus der Zeit gefallen ist.
Der Regisseur Jan-Christoph Gockel, der sich in verschiedenen Arbeiten mit dem Topos Revolution geradezu obsessiv beschäftigt hat, wirft in dieser Inszenierung einen Blick auf Tollers vergessenes Gesamtwerk („Die Wandlung“, „Masse Mensch“, „No more peace“, „Hoppla wir leben“), und schreibt gemeinsam mit den Spieler*innen die Geschichte ins heute weiter. Eine rastlose Toller Figur jagt durch den eigenen Kosmos von Bildern, Figuren und Stimmen. Gockel stellt sie lustvoll in jeweils neue Resonanzräume, in die autobiografische Puppenwerkstatt, ins expressionistische Antikriegsdrama, in Stummfilm, Märchen, Komödie, Live-Reportage oder ins Konzert. Dieser Toller, Phantom und role model, tritt in den Dialog mit sich selber. Und mit uns heute! Warum sind bisher noch alle Revolutionen gescheitert und machen trotzdem Sinn? Die Auseinandersetzung mit Toller stellt eine Aufgabe, beschwört die Macht der solidarischen Körper und der Phantasie, verheimlicht nicht ihr krasses Scheitern, – und macht trotzdem weiter.
Von David Graeber
„Was ist eine Revolution? Wir dachten, das wüssten wir.“ Der Anthropologe David Graeber analysiert in seinem Text „A practical utopians guide to the coming collapse“ das Revolutionspotential unserer Gesellschaft unter Rückbezüge auf die gelungenen und gescheiterten Revolutionen der letzten 250 Jahre. Den Auswirkungen eines neoliberalen Systems schenkt er dabei gesonderte Aufmerksamkeit.
„Die Philosophin Olga Shparaga ist eine der Vordenkerinnen der Opposition in Belarus. Sie sagt: Es sei kein Zufall, dass die Revolution dort ein weibliches Gesicht habe.“ In der Serie „Worüber denken Sie gerade nach?“ beantwortet Olga Shparaga im Interview mit Elisabeth von Thadden, Zeit Online, worüber Sie sich den Kopf zerbricht.
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