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Digitales Programmheft HEILIGE SCHRIFT I

2017 beginnt für Wolfram Lotz ein Lebensexperiment. Der visionäre Autor, der immer wieder mit anarchischer Lust sämtliche Konventionen des Theaters sprengte, zieht mit seiner Familie für ein Jahr in ein winziges Dorf im Elsass. Seine Partnerin tritt dort eine neue Stelle an einer Schule an, und Lotz will nicht weniger als sein Leben dokumentieren: ein Jahr lang schreibt er mit, jeden Tag, von morgens bis nachts. Ein Jahr Abgeschiedenheit, der Versuch sich schreibend aus einer persönlichen Krise zu befreien, einen neuen Zugang zur eigenen Sprache zu finden, zur Wirklichkeit. Er beschreibt wild und ungeordnet sein Überleben zwischen den alltäglichen Dingen: das Flimmern des Internets, die spielenden Kinder, die Nachbarskatze, die kleinen Begebenheiten, Tiefsinniges, Banales - die Heilige Schrift handelt von dem radikalen Versuch, das Leben möglichst vollständig und unmittelbar zu erfassen, mit allen literarischen Mitteln.

„Was auf den 912 Seiten passiert, ist Poesie, Prosa, feinster Humor, schönster Quatsch.“

Süddeutsche Zeitung

Was für ein Glück

Der Dramatiker Wolfram Lotz hat ein Jahr lang „alles“ aufgeschrieben - und den Text dann gelöscht. Nun wurde er doch gedruckt, als „Heilige Schrift I“.

Süddeutsche Zeitung • 4.5.22

Immer wieder spielt Lotz dabei mit der Imagination, sich in andere Figuren zu verwandeln. Ein Freund hatte ihn zuvor gewarnt, dass er auf dem Land womöglich wunderlich werden könnte und sich in einen versonnen, weltabgewandt durch den Wald mäandernden Dichter verwandeln würde. In eine ambivalente Figur wie Peter Handke. Diesen freundschaftlich humorvollen Rat greift Lotz auf und verwandelt sich tatsächlich - im Text wird er mal zu Miley Cyrus, mal zu Peter Handke, Bert Brecht und Durs Grünbein bis hin zu Odysseus.

Es ist quasi ein literarisches Revitalisierungscreme-Verfahren!

Parallel zu diesem gigantomanen Schreibprojekt entstand auch sein ebenfalls an den Kammerspielen laufendes Stück „Die Politiker“. Der Text hat in seiner Gedankenwelt viel mit dem Tagebuch-Projekt zu tun. „Die Politiker“ beschäftigt sich mit dem starken Gefühl der Einsamkeit und folgt dem Gedankenstrom eines lyrischen Ichs durch eine schlaflose Nacht. Immer wieder wird die Frage nach der eigenen Verbindung zur Außenwelt thematisiert. Wie lässt sich im Schreiben Kontakt mit seiner Umwelt aufnehmen, wie generell der Kontakt zu Familie und Freunden halten? Im Zentrum seines Werks steht immer die Frage, wie sich die eigene Weltwahrnehmung adäquat in Literatur umsetzen lässt.

Englische Übertitel Neue Zeit, neue Dramatik
Die Politiker
Von Wolfram Lotz • Regie: Felicitas Brucker

Wolfram Lotz ist das Gegenteil eines Vielschreibers: obwohl er seit 2010 zu den gefrag­testen Autor*innen des deutschsprachigen The­aterbetriebs gehört, veröffentlichte er lediglich drei weitere Theaterstücke und sagte konse­quent alle Angebote für Auftragswerke ab. Er ist ein Autor, der immer wieder neu mit der eigenen Erwartungshaltung, dem eigenen Anspruch ringt, für jeden Gegenstand die spezifische Form und Sprache zu finden.

Das Verhältnis von Realität und Fiktion ist von Anfang an ein zentrales Thema im Werk von Wolfram Lotz. Schon in seinem poetologischen Manifest „Rede zum unmöglichen Theater“, das er im Anhang seines ersten Stücks „Der große Marsch“ (2010) vorlegte, fordert er energisch, das Theater als eine Kunstform zu begreifen, die spielerisch Alterna­tiven zur Wirklichkeit formuliert und durchden­kt, anstatt sich im Versuch einer konkreten Abbildung von Realität zu erschöpfen. Sein Credo lautet: unlösbare Aufgaben an das Theater stellen. Und so treffen in seinen Stücken wie auch in „HEILIGE SCHRIFT I“ wild durcheinander gewürfelt Figuren des öffentlichen Lebens aufeinander, die wir in absurden, verschobenen, hochkomischen Situationen erleben.

Der Autor und Regisseur Falk Richter setzt sich in seiner dritten Arbeit an den Münchner Kammerspielen mit dem poetischen Produkt von Wolfram Lotz‘ bisher wahnwitzigstem Projekt auseinander. Falk Richter lässt sich von „HEILIGE SCHRIFT I“ zu einer immersiven Installation inspirieren. Die Zuschauenden betreten quasi das Leben des Autors.

Sie erleben einen Abend in drei Teilen

Zunächst führt sie noch im Foyer ein Hörstück von Matthias Grübel in die „Heilige Schrift“ ein. Dann betreten sie den von Heike Schuppelius geschaffenen Installationsraum: sie können sich frei durch verschiedene Räume bewegen, in manchen Räumen gibt es QR-Codes, mit denen sie weitere Soundarbeiten anhören können, sie treffen viel näher als sonst auf Schauspieler*innen und tauchen mit Virtual- und Augmented-Reality-Arbeiten von Chris Kondek und Phillip Hohenwarter immer tiefer in den aberwitzigen Kosmos des Wolfram Lotz ein. Schließlich landen sie im Wald und das Geschehen kulminiert in einer Performance.