MK:

Wieso „ratlos“?

Ratlos sein = Weiterfragen
Text aus Alexander Kluges Buch ZIRKUS/KOMMENTAR (2022)

Den Titel des Films „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ habe ich nicht erfunden, ich habe ihn gefunden. Ein Zufallsfund in einem meiner Schreibhefte von 1962. Eine Bleistiftnotiz. Entweder hatte ich damals den Satz irgendwo gelesen und notiert, oder ich hatte den Satz mir aufgeschrieben, um daraus eine Geschichte zu schreiben. Jetzt wurde er 1967, inmitten der Zweifel des Endschnitts, der Titel des neuen Films.

Es zeigte sich aber, dass der Titel im Subtext des Films seinen guten Grund hatte. Bei den Dreharbeiten und dann im Schnitt hatte sich zu dem Thema des Zirkus ein starkes zweites Motiv gesellt: NOTWENDIGKEIT UND ABGRÜNDE DER ALLMACHTSPHANTASIEN. Allmachtsphantasien gehören zum Zirkus. Aber sie finden sich auch in jeder Revolution und in jeder Rebellion der Gefühle. Wir sahen das in den studentischen Protesten. Es ergab sich die Frage: wie reagiert eine politische Intelligenz, die in akademischer Artistik geschult ist auf die Robustheit der Gesellschaft, deren Basis auf Arbeit, technischer Geschicklichkeit und Überlebenswillem beruht. Verkürzt hieß das: Wie verhalten sich Künste hoch in der Zirkuskuppel zum Boden der Manege. Zur Bodenhaftung überhaupt.

Im Schnittmaterial des Films war das durch eine Klavier-Artistin dargestellt. Mich und das Filmteam hatten die akrobatische Geschwindigkeit ihrer Finger, die Musikalität, die der Artistin fast die Sprache nahm, und dann deren spontane Feststellung beeindruckt, dass man mit aller Kunst die Unmenschlichkeit auf dem Planeten nicht besiegen kann. Die Szene wurde in unseren Köpfen zu einem Attraktor. Es kam hinzu, dass die Dreharbeiten zu „Die Artisten …“ und die filmische Dokumentation der Anfänge der Protestbewegung einander überschnitten. Eine solche dokumentarische Arbeit ist ein Dialog zwischen unseren Absichten, dieses rebellische Geschehen positiv darzustellen und der Kamera, welche – wie ein technisches Unbewusstes – die Absichten der Filmemacher korrigiert und sabotiert. Alles dies zusammen sind die in den Subtexten des Films enthaltene Gründe für das Wort „ratlos“.

Mit dem Kontext des Protests (der Hinwendung zu einer „neuen Sachlichkeit“) stand in Verbindung die Frage: Darf man Tiere im Zirkus dem Sensationsprinzip unterwerfen? Der permanenten Leistungssteigerung? Wir meinten, dass dies weder bei Menschen noch für Tiere ein Idol sein kann. Darauf beruhte dann das Programm der Zirkusdirektorin Leni Peikert, welche die Authentizität zum Zentrum ihres Unternehmens zu machen versucht. Noch ihr Vater, ebenfalls Zirkusbesitzer, hatte davon geträumt, Elefanten in die Zirkuskuppel zu hieven und dort auf dem Seil tanzen zu lassen. (Siehe Bild Seite …)

Ratlos ist kein negatives Attribut. Ratlosigkeit ist ein Zustand, der Suchbegriffe in Gang setzt. Besser ratlos als tatenlos. Das Wort ratlos zeigt, dass eine ernste Frage gibt, die ungelöst ist.

Eine solche Frage, die bei mir einen emotionalen Zwiespalt erzeugt, ist bis heute das „Allmachtsgefühl in uns“. Sigmund Freud hat es als Höhepunkt der psychischen Entwicklung und als Absturz beschrieben. Ohne solchen Èlan wären wir Menschen der Macht des Faktischen ohnmächtig ausgesetzt. Wir brauchen nicht nur den Mut des Erkennens, auch den zu Handlungen – und dem können wir nicht folgen, ohne uns zu irren.

Das betrifft das Selbstbewusstsein der Sansculotten in der Französischen Revolution. Sie erfreuen sich im Winterzirkus in Paris an den Allmachtsphantasien der Dompteure und Akrobaten. Es ist ihr eigenes Allmachtsgefühl bei der Emanzipation der Menschheit, bei der Revolutionierung. Und zugleich – an der dem Lustprinzip entgegengesetzten Seite – geht es um Guillotine. Die Allmacht der Patrioten und der Republik ist fähig, mit dem Fallbeil die schwächste Stelle des Menschen, dessen Nacken, so zu bedrohen, dass die generalisierte Tugend erzwungen und die Gegenrevolution auf Null gebracht wird. Alles in mir wünscht sich, dass aus der Großen Französischen Revolution etwas wird. Nichts in meinem Herzen billigt, das Attentat auf die Nacken. Ratlos sein = Weiterfragen.