MK:

Nach ABSCHIED VON GESTERN

Ratlos sein = Weiterfragen
Text aus Alexander Kluges Buch ZIRKUS/KOMMENTAR (2022)

Nach ABSCHIED VON GESTERN, einem Film, dessen Stoff auf eine Geschichte in meinem Buch LEBENSLÄUFE zurück geht, debattierte ich mit meiner Schwester, der Hauptdarstellerin in ABSCHIED VON GESTERN, was denn der Stoff des nächsten gemeinsamen Films werden sollte

Wir wollten nicht an literarischen Stoff anknüpfen, sondern an den Film selbst, die Filmgeschichte. Beide, meine Schwester und ich, waren Patrioten des Stummfilms der Zwanziger Jahre. Der Stummfilm gehört zur sogenannten PLEBEJISCHEN ÖFFENTLICHKEIT. So wie die Panoramen, die Jahrmärkte, die „Vermischten Nachrichten“ in den Zeitungen, die Varietés und Volkstheater, die Moritaten – und eben der Zirkus. Wir hielten Film und Zirkus für nahe Verwandte.

Es kam hinzu, dass wir politisch erregt waren. Beide, meine Schwester wie ich, waren „Vor-68iger“. Der Abzweigungspunkt in unseren Lebensläufen, eine „Wende“, lag eher im Jahr 1962 als in der Zeit des studentischen Protests. Jetzt aber verfolgten wir den Tod von Benno Ohnesorg während des Schah-Besuchs in Berlin. Wir nahmen Teil an den Diskussionen und Teach-ins, die auf dieses Ereignis folgten. Was für ein Aufruhr der Gefühle. „Was für ein Zirkus!“..

Es war keine Logik, wie man sieht, die mich zum Stoff des Zirkus führte. Eher das Gefühl von Robustheit, die vom Geruch der Zirkusställe ausging. Faszination ging davon aus, wenn ich zusah, wie ein Zirkuszelt abgerissen, auf Transport gebracht und an ganz anderem Ort durch die Arbeiter wiederaufgerichtet wird. Wir hatten noch keinen Titel für den Film, kein Drehbuch und auch keine „Handlung“. Aber wir waren uns sicher, dass Zirkus etwas mit Offenheit und Freiheit für uns zu tun hätte. Es waren die neuartigen Büchertische vor der Mensa und die akademisch-politische Redeweise, die in der Protestbewegung üblich war, die uns zum Gegenpol der Bücher, zur Manege führten. Dann schied meine Schwester aus dem Projekt aus. Wir verstritten uns. Mit der starken und wandlungsfähigen Schauspielerin Hannelore Hoger entstand der Film „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“.