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Avantgarde / Arrieregarde

Drei Hinweise auf „Kluges strategisches Vermögen“ von Klemens Gruber

Schon früh stand Alexander Kluge im Kontext der Avantgarde. Sein „‚schriftliches’ Werk“, so Pier Paolo Pasolini 1970 in der Einleitung zur italienischen Ausgabe von Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, sei kein neo-avantgardistisches Werk, sondern ein „Revival der klassischen Avantgarde“. Der gleichnamige Film war 1968 bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden – wie schon Abschied von gestern zwei Jahre zuvor mit dem Silbernen. Es fehlten die für die Neo-Avantgarde typische Albernheit oder Seichtheit, schreibt Pasolini, und ihr Mangel an jeglicher Konstruktion: Kluges Werk hingegen sei „zutiefst ernsthaft und mit Eigensinn konstruiert“, auch wenn er zu einer „absurden Verfahrensweise“ neige.

1. Kohle, Koks und Spürhunde

Dimostrazione per assurdo: „Beweis durch Hervorhebung des Widersinns, welcher im Gegenteil läge“, lautet der Eintrag in einem älteren italienisch-deutschen Wörterbuch, und in der Tat verdankt sich vieles von Kluges literarischen Konstruktionsprinzipien der juristischen Beweisführung, dem Handwerkszeug seiner ersten Profession. Zumal in den Frühschriften des „kulturpolitisch tätigen“ jungen Juristen. Bereits der Titel der gemeinsam mit Hellmut Becker 1961 verfassten Studie Kulturpolitik und Ausgabenkontrolle. Zur Theorie und Praxis der Rechnungsprüfung setzt auf eine Spannung, die sich dann in knappen Fallgeschichten immer wieder neu auflädt. Einer der im Kapitel „Theater (einschließlich Oper und Orchester)“ unter der Zwischenüberschrift „Theaterpolitik der Intendanten oder Theaterpolitik der Rechnungshöfe?“ aufgelisteten Fälle führt dies plastisch, ja filmisch vor:

4. Bei Gastspielen staatlicher Theater wird von den Rechnungsbehörden beanstandet, daß ein Teil der Künstler Zimmer mit Bad verlangt und erhalten habe. Die Theaterintendanten verweisen auf die besondere Anspannung der Schauspieler, die Rechnungsbehörden auf die Bestimmungen des Reisekostengesetzes. Wer entscheidet, ob der Darsteller des Othello baden darf, wenn der Ministerialdirektor im selben Hotel kein Badezimmer bezahlt bekommt?

Aus der Kollision erst durch Rechnungsprüfung zusammengespannter Welten wird eine Konstruktionsweise entwickelt, deren Esprit in der Tat von jenem „absurden Verfahren“ herrührt, das Pasolini später konstatieren wird. Dabei stößt ein Minimalismus der Erzählökonomie auf kontrastreiche Erfahrungen. Die Geschichten entstehen aus Interessenskonflikten. Nachdem die gegenseitigen Ansprüche durchdekliniert wurden, tritt an die Stelle des Urteils ein literarischer Überschuss: Im abschließenden Resümee erhält der juristische Sachverhalt durch Verdichtung und kurzschlussartige Rückbeziehung auf das Alltagsleben, aus dem er doch stammt, eine politisch-ästhetische Prägnanz, die Markenzeichen von Kluges künftigem Schaffen werden sollte.

An seinem ersten Buch schon – aus dem Jahr 1958 – konstatiert Kluge den Transfer in die Literatur: „Mein Ausweg bestand darin, dass ich als Anwalt auf Universitätsrecht spezialisiert war. Ich habe meine Dissertation über die Geschichte der Universität geschrieben, vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, das war auch eine Art Roman.“ Drei Jahre später dann entwickelt er eine genuine Form des Geschichtenerzählens in juristischen Fallstudien, ähnlich wie Oliver Sacks aus Krankengeschichten seine wundersamen Berichte von psychischen Ausfällen und Überschüssen bauen wird. In Kulturpolitik und Ausgabenkontrolle berichten die Autoren etwa über „Die Interessensgebiete der Rechnungsprüfung im Rundfunk“ mit diagnostischem Blick und – bei aller Ernsthaftigkeit – unleugbar diebischem Vergnügen:

2. Die Innenrevision macht darauf aufmerksam, daß die Programmgestalter sich aus dem Schallarchiv Tonträger kommen lassen, sie aber nur ungern wieder zurückgeben, so daß sich die Büros der Programmgestalter zu kleinen Schallarchiven entwickeln.

Dass die Innenrevision Missständen nachgeht und Neuordnungen vorschlägt, ist Teil ihrer Aufgabe. Doch diese Sachverhaltsdarstellungen geraten zu ‚Literatur auf den ersten Blick’: Momentaufnahmen, die nach mehr als Abhilfe verlangen – stellen sie doch die Zustände unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit dar. Das Buch ist eine Sammlung von Fällen, Anschauungsmaterial, Exempel. Unter dem Zwischentitel „Die Position der

Rechnungsprüfung im Theater“ argumentieren Becker/Kluge im Folgenden zunächst ganz elementar:

1. Eine Oper bezog Kohlen wegen geringer eigener Lagerungsmöglichkeiten bisher nach dem jeweiligen Bedarf. Hierdurch entging ihr der bei Abschlüssen im Frühling und Sommer mögliche Preisvorteil. Der Rechnungshof machte die Oper darauf aufmerksam, daß sie im Frühling zu den verbilligten Preisen Sukzessivlieferungsverträge abschließen könnte, wobei sie ihre bisherige Praxis beibehalten und doch wirtschaftlicher verfahren könnte.

Dieses Beispiel zeigt die eigentliche Domäne der Wirtschaftlichkeitsprüfung. Hier wird für den Staat Geld gespart und doch kein Anliegen des Theaters verletzt.

Auch wenn hier ins Kaufmännische ebenfalls literarische Verfahren (der Auswahl, der Anordnung, der Fallhöhe) durchscheinen, ist das Interesse doch, ebenso wie im nächsten Fall, ein strikt juristisches:

2. Ein Theater bestellte im März 1957 25 Tonnen Koks zum erhöhten Winterpreis, obwohl in den Kellern noch 40 Tonnen Koks lagerten. Es überzog damit seine Haushaltsmittel, erhielt aber ohne Schwierigkeiten eine Nachtragsbewilligung. Der gekaufte Koks diente als Vorrat für das nächste Jahr.

Hier verschafft sich das Theater durch eine höchst fragwürdige Manipulation haushaltsrechtlich nicht gerechtfertigte Mittel in Form von Vorräten. Einige Theater können sich aufgrund ihres hervorragenden künstlerischen Rufes politisch solche Maßnahmen leisten. Die Rechnungsprüfung ist die unabhängige Instanz, an der solche Versuche scheitern müssen.

Der abschließende Satz, in seiner Lakonik ohnedies kaum zu überbieten, wird dann zwei Fälle später analytisch zugespitzt: „4. […] Die Rechnungshöfe sind die Spürhunde des Parlaments“ heißt es in unvermittelter Schärfe: Plötzlich eine an die Surrealisten gemahnende Formulierung, politisch vergleichsweise enthaltsam noch, radikaldemokratisch gewiss, aber von höchster poetischer Prägnanz. Und ein neues Wappentier im Zoo der Avantgarde.

2. Korrespondenzen – „Die Räume sind die Nachricht“

Bei Adorno hingegen waren es die wilden Tiere, zu denen sich Anfang der 1930er Jahre die Glücksversprechen geflüchtet hatten, samt unsichtbarem Dompteur. Da ließen „arge Träume, die in unseren gesitteten Theatern die Tierspiele wieder einführen, […] aus den Garderobekäfigen die bengalischen Königstiger triumphal hervorbrechen“ – Errettung des

Theaters aus dem „Sägemehl“ der Manege, das Adorno zufolge auf den Hauptzugängen zum Parkett – „von gezähmtem Publikum bevölkert“ – stets gestreut sein müsste. Dabei hatte der Blick auf den Zirkus der historischen Avantgarde Anfang der 1920er Jahre neue Perspektiven eröffnet: Zersetzung der großen dramaturgischen Bögen durch Nummern-Dramaturgie, die Attraktion als kleinste dramatische Einheit zur Erregung der Aufmerksamkeit des Zuschauers, Montage statt narrativem Vorankommen einer Geschichte. Immer wieder bezieht sich Kluge – in seinen Büchern, Filmen und Fernsehsendungen – auf diese Errungenschaften der 20er Jahre, auf die Frühgeschichte des Films, auf die Recherchen der Avantgarde: auf Eisensteins „Montage der Attraktionen“ zur Bearbeitung des Publikums mit möglichst starken Reizen; auf Tretjakovs „Biographie der Dinge“, in denen eine Biographie der Verhältnisse steckt; auf die Musikalität des „Intervalls“ bei Vertov; auf Brecht, auf die Unterbrechung als wichtigstes gestaltendes Element, die immer auch eine Unterbrechung der Fatalität des Geschichtsverlaufs ins Auge fasst, und auf dessen Forderung „Das komplexe Sehen muß geübt werden“.

Wenn Avantgarde vor allem eine neue Art des Sehens bedeutet und eine Weise, das Sichtbare neu zu denken, sind die historischen Korrespondenzen vielfältig. „Ich würde keine Filme machen, wenn es nicht die Filmgeschichte der 20er Jahre gäbe“ notierte Kluge 1979, und auch die Mitte der 1980er Jahre einsetzenden Fernseharbeiten stehen unter dem Aszendenten der historischen Avantgarde: Zu deren künstlerischen Verfahren gehört das Experimentieren mit Schrift, Laufschriften, Schrifttafeln, Lettern – „Wir reißen den Buchstaben aus seiner Zeile“ hatte Kazimir Malevič 1916 in einem Brief an Aleksej Kručonych geschrieben – ebenso wie der Einsatz des Zeitraffers, der mit Einzelbildverfahren, Bildstillstand und Bildrücklauf der Filmavantgarde der 1920er Jahre göttliche Macht über die Zeit verlieh und bei Kluge nicht nur ultraschnelle Hintergründe sondern auch eine „Zeittotale“ ins Spiel bringt. Durchsichtigmachung der Konstruktionsprinzipien, Markierung des Schnitts, Ausstellung der Verfahren. So lautet das ästhetische Programm der Avantgarde.

Dem entspricht Kluges Umgang mit dem Raum, wenn er im Fernsehen die Opernbühne zur Projektion von Filmen – meist in schwarz-weiss – benützt. In seinem letzten Kinofilm „Neues vom Tage - -“ (BRD 1988), hergestellt „in einer Gemeinschaftsproduktion des Instituts für Filmgestaltung Ulm und dem ZDF in der Werkstadt Film / Fernsehen“, liefert Kluge die kontrastreiche Erfahrung von drei historischen Wahrnehmungsanordnungen in einem Bild: prismatisch zerfällt er es in Theaterraum, Lichtspielpalast und Fernsehabend. Das Opernhaus wird zur Bühne für das neue Medium Film, das er derart – im Fernsehen ausgestrahlt – alt und erfahren aussehen lässt. Die Praxis der frühen Avantgarde, Filme in Theateraufführungen zu projizieren – die berühmtesten sind wohl Glumovs Tagebuch, Eisensteins „erstes Filmchen“ aus dem Frühling 1923 und Entr’acte von René Clair und Francis Picabia ein Jahr später – und auf diese Weise eine intermediale Initiation hervorzurufen, findet hier eine beiläufige televisive Steigerungsform. Die Konfrontation mehrerer Darstellungsweisen zerstört die Illusion der Unmittelbarkeit des Angeschauten durch Reflexion auf ihre Gemachtheit: Die Szenerie wird als mediale Konstruktion kenntlich gemacht.

Noch einen Schritt weiter geht Kluge, wenn er die Bluebox zur Herstellung von ungewöhnlichen, bisweilen aberwitzigen Hintergründen für Interviews verwendet, um analytische Kontexte zu liefern. In der Sendung Eine Frau wie ein Vulkan setzt er John Fiore in eine Loge, mit Blick auf das Innere des Opernhauses, so, dass der Kopf seines Gesprächspartners vom Bühnenportal gerahmt ist. Während der musikalische Leiter am Klavier minutiöse Analysen einzelner Passagen aus Bellinis Norma durchexerziert, zeigt Kluge hinter ihm auf offener Bühne Techniker und Bühnenarbeiter im Loop ihrer Arbeit nachgehen.

Im Gespräch mit Claus Philipp nach der Vorführung dieser Sendung im ›Echoraum‹ in Wien 2003 erläutert Kluge auf dessen Frage nach der Bedeutung der Störelemente in der Sendung – „hinten wird gehämmert“ – die Situation folgendermaßen: „Sie kriegen diesen Sänger nicht natürlich außerhalb seiner Arbeitssituation und in seiner Alltags- und Arbeitssituation wird gehämmert, den ganzen Tag, und, das müssen Sie in Kauf nehmen, wenn Sie den O-Ton der wirklichen Arbeit in der Oper, des wirklichen Ausdrucks, den ein Sänger zum Beispiel oder diese Sängerin in Nahaufnahme hat, haben wollen“. Die Schönheit der Anordnung liegt in der Antwort des Raumes auf die Fingerübungen der Analyse, die mit Ausschnitten aus Werner Schroeters Norma-Inszenierung montiert sind und diese zwischen Luzidität, großen Gefühlen und Materialvergnügen delirierende Sendung strukturieren.

3. Von der Maschekseite

Es gibt bei Kluge neben dem erzählerischen einen analytischen Grundton, der mit der Arbeit am Begriff operiert und eine ernste, bisweilen auch heitere Entschlossenheit an den Tag legt. Wie die historische Avantgarde liefert Kluge immer auch eine avancierte Theorie seiner eigenen Arbeit. Dabei hat er stets ihre Position auf dem gesellschaftlichen Feld im Auge. So gibt er Anfang der 1980er Jahre eine Lagebeschreibung, die auch vier Jahrzehnte später nichts

von ihrer ursprünglichen Prägnanz eingebüßt hat. In einem Gespräch mit den Redakteuren der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation konstatiert er: „Sie [die Linke] arbeitet mit Grobgriffen während das System längst diese Ebene der Konfrontation verlassen hat und wenigstens in den drei großen Mikrobereichen – Atomphysik, Mikroelektronik also Bewußtseinsindustrie, Gen-Technologie – schon längst Feingriffe anwendet.“

Wenig später, in einem Gespräch mit Stuart Liebman für die damals wie heute bestlayoutierte kunstwissenschaftliche Zeitschrift namens October, mit dem lapidaren Untertitel ArtTheoryCriticismPolitics, fasst Kluge diese Veränderung in der Bewusstseinsindustrie schärfer auf: Heute versuche eine gewaltige Industrie auf primitive Weise Intelligenz zu akkumulieren. „That is, they wish to take hold of it and to make full use of it, just as they exploited artisanal work. To expropriate certain middle levels of cognition and to industrialize them, formerly private areas have been industrialized – through entertainment after work, on the one hand, and through the industrialization, the computerization of the new work at home, on the other. That means that commodities and industries now realize themselves in human beings.“ Und er schließt den Gedanken über die Umstellungen im Gehirn des Zuschauers – nicht ohne diesen Vorgang sogleich an die faschistischen Gesellschaften der 1930er Jahre historisch rückzukoppeln und gleichzeitig als den genuinen Gegenstand der Kritischen Theorie zu benennen – mit dem knappen Satz „That is the battle line.“ Analyse der aktuellen Situation, Benennung der Konfliktlinien, Prüfung und Aufstellung der eigenen Kräfte, schließlich eine überraschende Folge von Zügen. Dies ist die Art seines Vorgehens.

Im selben Gespräch durchkreuzte Kluge gewitzt seine Zuordnung zur Avantgarde: „If we have to lead something, we lead it both as the avant-garde and the arrière-garde. The avant-garde is a concept valid for the early bourgeois period, but not for the end of the bourgeoisie. At this time, it may be necessary to be behind and to bring everything forward.“ Das ist nicht die Arrieregarde von Clausewitz, deren Aufgabe es ist, den Rückzug zu organisieren. Und auch wenn es an Roland Barthes „Nachhut der Vorhut“ erinnert, hat es nichts vom Liebäugeln mit einem gelungenen Einfall oder dem Wunsch, sich „nach hinten“ abzusetzen. Gewiß ist es mehr als eine taktische Finte, von der anderen Seite aufzutauchen, von der Maschek-Seite zu kommen, wie man in Wien sagt, von hinten her.

Kluges analytischer Instinkt ist strategisch. 1982, im erwähnten Gespräch mit Ästhetik und Kommunikation, konkretisiert er das Gefälle grob/fein sogleich in einem Bereich, den er als Terrain der Auseinandersetzung ins Auge fasst: „Wer glaubt durch das Verteilen von Flugblättern, durch Überzeugungsarbeit, die Mechanismen kompensieren zu können, die durch die Verkabelung des Fernsehens zustande kommen – hier werden ja massenhaft Einzeleigenschaften des Menschen umorganisiert – ist zum Scheitern verurteilt.“ Die hoffnungslos antiquierten Schlachtordnungen der Neuen Linken werden verworfen, um die Kräfte für das entscheidende Vorhaben der nächsten Jahrzehnte neu zu gruppieren. Dieses Vorhaben war in Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos, im „Inhalt auf zwei Seiten“ schon ausgemessen mit der Geschichte der Leni Peikert: „Sie geht zum Fernsehen. Sie erlernt die Technik. Sie sucht keine Karriere im redaktionellen Bereich, weil sie weiß: hier wird man nur abhängig. Die Kenntnis der Technik versteht sie als materielle Basis ihrer gesellschaftlichen Bemühungen. Ihre Mitarbeiter arbeiten ebenfalls tagsüber beim Fernsehen. Nachts schreiben sie Romanserien.“ Etwas von diesem Unternehmen kündigt sich bereits 1970 in Kluges Auftritt bei einer Diskussionsrunde über „Gesellschaft und Film“ mit dem TitelReformzirkus im Westdeutschen Rundfunk an: Eine Art früher Talkshow im Fernsehen, schwarz/weiß noch, ganz brechtisch auf harten Stühlen an einem Tisch, der kein Couchtisch und kein Teetischchen, auch keine Bar, sondern ein Tisch, gerade groß genug, vier Diskutanten gegenüberzusetzten, direkt und nahe, und kein offener Kamin weit und breit, ein Küchentisch eher, an dem gearbeitet werden kann, Gedanken hergerichtet werden „(wie man sagt: der Tisch ist gerichtet)“. Zum einen formuliert Kluge da Elemente seiner Filmarbeit,

„um gewissermaßen durch Rückfall auf handwerklicherTätigkeiten, auf vorkapitalistische Produktion das Filmmaterial zu befreien“. Zum anderen kritisiert er sehr schnell die „falsche Fragestellung“ der Sendung, die Routinen der Gesprächsführung, die dem Schematismus einer künstlichen Zeitknappheit entsprechen – „Sie machen nach jedem halben Gedanken einen Punkt“ wirft der seinem Gegenüber vor –, und die innere, verinnerlichte Organisation des Fernsehens: „Das Instrument, das Sie hier haben, ist ein viel zu technisches Organ, d.h. ein technisch verwaltetes Organ; in Ihnen ist die Machtstellung der Rechtsabteilung und der technischen Verwaltung wesentlich größer als Ihre redaktionelle Macht.“

Schließlich, nach einer Dreiviertelstunde, nimmt das Gespräch eine unvorhergesehene, aber folgerichtige Wendung. Im Hintergrund huscht jemand schemenhaft geduckt durchs Bild, und dann kommt doch alles anders an diesem Fernsehabend, weil dem Diskussionsleiter ein Zettel des verantwortlichen Redakteurs zugeschoben wird und Kluge den Zettel zu fassen kriegt und die Atmosphäre schlagartig zuspitzt, indem er – mit der professionellen Erfahrung der Gerichtssäle – diesen Kassiber vorliest: „Sehen Sie zum Beispiel, das ist die Methode von Fernsehen, hier kriegt der einen Zettel vorgelegt und da heißt es: Sie lassen sich leider schon seit 45 Minuten von Kluge manipulieren – vier Mal Ausrufezeichen. Und ich finde das eine Unmöglichkeit, […] ich finde die Manipulationsmethode, die hier die Redaktion macht, die eine feste Vorstellung vom Verlauf eines Themas hat, und es als Manipulation bezeichnet, wenn man versucht Gedanken auszudrücken. Warum laden Sie uns denn ein, wenn Sie gar nicht hören wollen was wir sagen?“

Statt den Abbruch einer Live-Sendung zu erleben, sieht der Zuschauer nach einigen Sekunden schwarzer Mattscheibe, während derer er die Diskussion akustisch weiterverfolgen kann, wie sich der aus dem Off agierende Sendungsverantwortliche dazu hinreißen lässt, sich mit an diesen Tisch zu setzen; wie Studiotechniker, Kameraleute, Kabelträger und der eine oder andere Redakteur ausdrücklich der Meinung sind, dass diese „verfahrene“ Situation dennoch auf Sendung bleiben soll; und wie Alexander Kluge seine Kritik am Fernsehen und an den beteiligten Personen ironisch verschärft, wenn er nach dem Eklat, im zweiten Teil der Sendung erklärt: „und da muss ich sagen, dass es dann sehr interessant verlaufen ist und wenn ich als Regisseur jetzt aufzunehmen gehabt hätte, da wär ich echt erfreut gewesen.“

Nach dieser Sternstunde der Deutschen Fernsehgeschichte ist dann 1972 in dem vieldiskutierten Buch Öffentlichkeit und Erfahrung ein großes Kapitel dem Fernsehen gewidmet – dem Widerspruch zwischen „Stoffülle und organisiertem Zeitmangel“, der „Willkürlichkeit der permanenten Stoffbeschneidung“ . Ein Schlüsseltext aus dem Jahr 1985 mit dem Titel „Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit“ nennt das Resultat solchen Anstalts-Fernsehens schließlich „Persönlichkeitsverlust auf Zeit als Genußform“.

Zur selben Zeit, Mitte der 1980er Jahre, beginnen Kluges Fernsehprogramme Gestalt anzunehmen. Partisanenhaft zunächst – denn „nur ein unerwarteter Zug bringt den Gegner aus dem Konzept“, wie es bei Majakovskij heißt, der ein großer Spieler war –, bald anerkannt und angefeindet, immer spielerisch das Medium selbst erkundend, auslotend dessen Möglichkeitsformen, forschend: drei-, viermal pro Woche macht Kluge anschaulich, dass das Fernsehen weit davon entfernt ist, seine eigene Potentialität zu ermessen. Und auch wenn er sich die Arrieregarde zum Vorbild nahm – „Nachhut einer ehemals mächtigen Bewegung zu sein, von der ich ganz sicher bin, daß sie immer wiederkehren wird“ –, um dieses Vorhaben in Angriff zu nehmen, hatte Kluge doch zuvor im selben Gespräch mit October versichert: „I believe in the avant-garde.“

Klemens Gruber war bis 2020 Professor für Intermedialität am Institut für TFM der Universität Wien. Mitbegründer der transmedialen gesellschaft daedalus, Veröffentlichungen zur Kultur der Avantgarde, zu Dziga Vertov, digital formalism und taktilen Medien. Herausgeber von Maske & Kothurn. Zuletzt erschien im Wiener Verlag Sonderzahl: Die polyfrontale Avantgarde. Medien und Künste 1912 – 1936 (2020) sowie Kluges strategisches Vermögen (2022). Letzterem Buch entstammt der vorliegende Essay , den wir hier mit freundlicher Genehmigung des Autors und Verlags veröffentlichen.