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Der Beginn einer Trilogie

Nach dem Fall des „eisernen Vorhangs“ Anfang der 90ziger Jahre wird die Idee der „Erbfeindschaft“ durch einen historischen Aufbruch ersetzt. Genau in diesem Augenblick emigriert die Titelfigur des Stücks Susanne Schmidt aus Polen nach Deutschland. Lesen Sie hier zwei historische Quellen aus Polen Anfang der Neunziger Jahre.

„Das hast nicht Du erlebt / Das war viel früher“

(Annemarie)

Anne Habermehl, die Autorin und Regisseurin von „Frau Schmidt fährt über die Oder“, im Gespräch mit der Dramaturgin Viola Hasselberg

Viola Hasselberg: Du hast für die Kammerspiele den ersten Teil einer Trilogie geschrieben: „Frau Schmidt fährt über die Oder“. Hast Du diesen Fluss jemals überquert?

Anne Habermehl: Ja, öfter. Das erste Mal bei einer Reise nach Polen: Ich war damals auf der Suche nach meiner Familiengeschichte. Die Symbolik dieses Flusses hat sich für mich erst später Stück für Stück erschlossen. Aber für mich war diese Überquerung damals tatsächlich wie der Schritt in eine andere Welt, auch in eine andere Zeit. Ich empfinde das immer noch so, dass auf der anderen Seite, in Polen, unmittelbar eine andere Welt anfängt.

Viola Hasselberg: Ich erinnere mich an meine Fluss-Überquerung Mitte der Neunziger Jahre, es war allerdings die Neiße, also der andere Teil der Oder-Neiße-Linie, der deutsch-polnischen Grenze: Ich strandete für eine mehrtägige Reportage in Görlitz/Zgorzelec. Hier war 40 Jahre die Welt zu Ende gewesen. Es herrschte dort – trotz allem Unbekannten – Aufbruchsstimmung.

Welche Erinnerungen hast Du an die Neunziger, an das Jahr 1990? Aus welchen Mosaikstücken setzt sich Deine Erinnerung zusammen?

Anne Habermehl: Die eindrücklichste Erinnerung an die Wende, also an den Herbst 1989, ist, wie meine Eltern vor dem Fernseher sitzen und heulen. Ich hatte sie bis dahin nie gemeinsam weinen sehen. Sonst war die Wende für mich wenig bis überhaupt nicht spürbar, ich bin im Südwesten Deutschlands aufgewachsen, der Osten existierte dort nicht. Er existiert dort bis heute nicht. Darum geht es auch in diesem Stück: Um den bis heute blinden Fleck.

Viola Hasselberg: Die politische und ökonomische Dynamik war im Nachhinein schwindelerregend. Das Ende der Geschichte. Das Ende der UdSSR, das Ende des Sozialismus. Wann hast Du begonnen, Dich mit dem Jahr 1990 auseinanderzusetzen? Was fasziniert Dich daran?

Anne Habermehl: Die intensive Beschäftigung begann 2010, ich habe damals ein Stück in Gera inszeniert. Mich hat der Osten fasziniert, er erschien mir wie eine offene Wunde der Gesellschaft. Im Westen gab es keinen Schmerz über einen Verlust, ich bin in der kompletten Alternativlosigkeit des Kapitalismus aufgewachsen. Diese Frage nach Alternativen finde ich aktueller denn je. Vielleicht suche ich nach einer Art Antwort in den Anfängen, wenn ich mich mit dem Zusammenbruch des Sozialismus beschäftige, auch wenn der nicht besser war und ebenfalls unzählige Opfer hinterlassen hat. Aber er war immerhin anders. Es ist bestimmt Zeit für den Versuch zu verstehen, was damals stattgefunden hat. Und ich glaube, dass das meiste, was gerade in Europa geschieht, etwas damit zu tun hat: mit einer verlorenen Hoffnung von Menschen.

Viola Hasselberg: Deine Geschichte über Frau Schmidt geht noch weiter in den Osten, nach Breslau (Wroclaw), wo Anfang der Neunziger keine Zukunft für eine junge Frau mit deutschen Vorfahren zu sein scheint. Ihr Mut zu einer Lebensentscheidung, nämlich in den Westen zu gehen, beruht auf vagen Vorstellungen, Bildern aus den Nachrichten von „runden Tischen“, Projektionen über eine demokratische Revolution. Wie rezipieren Menschen die historischen Bedingungen, unter denen sie leben? Woher kommt die Kraft zu einer Veränderung, wie entstehen Ideen, die uns in Bewegung setzen?

Anne Habermehl: Ich denke, der Mensch ist selten in der Zeit, meistens ist sie zu schnell, oder zu langsam, man trifft Entscheidungen in einem Moment, in einer Sekunde. Jenseits der Geschichtsbücher geschieht Geschichte im Kleinen. Und aus der Summe dieser Dinge entsteht dann „Geschichte“. Der Holocaust war nicht nur Auschwitz, sondern ob man 1945 der jüdischen Nachbarin die Tür geöffnet hat oder nicht. Und ich glaube nicht, dass irgendjemand aus heutiger Sicht diese Frage nach der Wahrnehmung der historischen Bedingungen um sich herum beantworten kann.

Wenn ich sagen müsste, worum es in diesem Text geht, dann würde ich sagen: Woher die Kraft zu Veränderung kommt! Wir leben alle dieses Leben im Widerspruch, denn wir wissen alle zu viel, beziehungsweise haben das Wissen, was in der Welt geschieht; aber für die wenigsten erreicht dieser Widerspruch eine Unerträglichkeit. Vielleicht kommt die größte Kraft aus der Unerträglichkeit der persönlichen Situation? Ein Mensch, der mit einem Rucksack auf einen anderen Kontinent flieht – was ist das für eine Kraft! Aber diese Menschen stehen nicht in den Geschichtsbüchern. Das Zerbrechen von Hoffnung ist etwas sehr Unaufdringliches. Für mich ist das größte Drama eine Hoffnung, die zerbricht. Aus der Summe zerbrochener Hoffnungen entsteht Gesellschaft.

Viola Hasselberg: Dein Stück erzählt von drei Generationen und vier Personen: Im Zentrum stehen Mutter, Tochter und Großvater sowie ein Freund. Der Großvater kann einen Teil seiner Erfahrung nicht an die Tochter weitergeben, nämlich den traumatisierenden Teil seiner Geschichte aus dem Jahr 1945. Die Tochter versucht, etwas über dieses Geheimnis zu erfahren, aber sie scheitert. All das, was sie wiederum ihrer eigenen Tochter weitergeben will, führt zu einer Abwehrreaktion bei der Tochter, bis diese die Flucht von zu Hause ergreift. Das Wissen umeinander ist nicht einfach vorhanden, trotzdem beschreibst Du, wie diese Familienkonstellationen zutiefst voneinander geprägt werden. Du hast einmal gesagt, dass Du immer wieder beim 2. Weltkrieg landest?

Anne Habermehl: Der Zweite Weltkrieg bzw. der Holocaust waren die größte moralische Katastrophe der letzten 100 Jahre, der größte zivilisatorische Bruch, und beides ging nun mal von deutschem Boden aus. Wenn ich mich ernsthaft mit meiner Identität beschäftigen möchte, komme ich um diese Zeit nicht herum. Und dass wir Traumata weitervererben, ist auch klar. Der Unterschied zwischen Traumata und den historischen Fakten ist, dass ein Trauma keine Zeit kennt, kein Ende. Das ist der Boden unserer Gesellschaft. Mein Großvater ist oft mitten in der Nacht aufgewacht, in die Küche gerannt und hat alle Fenster aufgerissen. Ich werde nie erfahren, warum.

Viola Hasselberg: Ziehst Du Erkenntnisse aus dem Vergleich von Zeiten? Kann man von 1990 aus auf 2021 blicken?

Anne Habermehl: Es geht um den ernsthaften Versuch, den Menschen in der anderen Zeit auf Augenhöhe zu begegnen, dem Historischen seine Historizität zu nehmen. In Orten und Zeiten herumspazieren zu können, das finde ich das Größte am Schreiben, die größte Freiheit.

Viola Hasselberg: Wenn Du jeweils einen Satz über die vier Figuren Deines Stückes schreiben würdest, wie würde er lauten?

Anne Habermehl: Susanne liebt. Micha kämpft. Wilhelm hält aus. Annemarie hat Sehnsucht.

Viola Hasselberg: Dein Stück ist wie eine Zeitreise, in der ich als Zuschauer die Indizien zusammensetzen muss. Dann ergibt das Puzzle ein Bild. Machst Du gern Zeitreisen? Und wenn ja, wohin würdest Du reisen? Und würdest Du bleiben oder wiederkommen wollen?

Anne Habermehl: Ich würde gern in die 20er nach Berlin reisen, 1933 würde ich dann spätestens zurückkommen. Und ich würde gern in die 80er nach New York reisen. Und kurz, also wirklich sehr kurz, würde ich gern ins Mittelalter reisen. Ich stelle mir das Mittelalter so unglaublich düster vor, das würde ich gern überprüfen. Und ich würde mir gern die Uraufführung der Perser ansehen. Vorausgesetzt ich bin keine Frau oder ein Sklave. Wiederkommen, ja. Immer. Ich würde eher den Ort wechseln, irgendwohin, wo es wärmer ist.

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